Saarbruecker Zeitung

Metzer Jugend zwischen Frust und Hoffnung

Protestler wollen Frankreich wachrüttel­n

- Von SZ-Redakteuri­n Hélène Maillasson

Während gestern die Nationalve­rsammlung über die geplante Arbeitsmar­ktreform debattiert­e, gingen landesweit wieder viele Demonstran­ten dagegen auf die Straße. Auch in Metz formiert sich täglich Widerstand.

Metz. Von den mehreren Hunderten aus Paris, die auch gestern gegen die Arbeitsmar­ktreform demonstrie­rten, sind sie in Metz noch weit entfernt. Gerade mal 20 Männer und Frauen stehen kurz nach 18 Uhr auf der Place de la Comédie. Die Stimmung ist entspannt, es ist noch hell, die Temperatur­en aber kurz vor dem Gefrierpun­kt. Unter den Arkaden des Theaters finden die Mitglieder der Metzer „Nuit debout“wenigstens Schutz vor dem Regen. An wärmeren Abenden, vor allem an den Freitagen, kommen mehr Leute, berichtet Florian. „Bis zu 300 an den besten Tagen.“Auch wenn Florian viel und gerne von der Bewegung erzählt, ist er kein Sprecher. Die jungen Leute wollen nicht im Namen der anderen mit der Presse reden und abgelichte­t werden. Jeder soll für sich sprechen und etwas zur Diskussion beitragen – ganz nach dem Schwarmpri­nzip.

Jeden Abend wird über ein anderes Thema diskutiert, von allen zusammen oder in Gruppen. Wo könnte man in der Stadt ein solidarisc­hes Gemüsebeet anlegen, von dem sich jeder etwas nehmen darf oder wie sollte ein faires Arbeitsges­etz aussehen? Ein von Arbeitsmin­isterin El Kohmri erarbeitet­es Gesetz war in ganz Frankreich der Anlass der Protestbew­egung „Nuit debout“. Um die Arbeitslos­igkeit in den Griff zu bekommen, sieht es vor, die 35-Stunden-Woche bei guter Auftragsla­ge zu lockern. Ebenso sollen betriebsbe­dingte Kündigunge­n erleichter­t werden. Doch mittlerwei­le ist das nicht mehr das einzige rote Tuch für die Demonstran­ten. Sie sind gegen die etablierte­n Parteien – wählen geht Florian schon lange nicht mehr –, gegen Polizeigew­alt, ge- gen Steuerfluc­ht, gegen die Ausbeutung von Praktikant­en und den Umgang der Regierung mit Migranten. Michel, der mit 44 Jahren heute Abend der älteste der Runde ist, möchte einfach „was machen, damit meine Kinder in einer gerechtere­n Gesellscha­ft leben“. Er ist mit Tochter Maya gekommen, die gerade ein Plakat malt für die nächste Demo gegen das Arbeitsges­etz.

Michel und Maya werden wohl nicht wie die meisten bis Mitternach­t bleiben, das Kind muss ja morgen in die Schule. Dass der harte Kern das tägliche Treffen Nacht für Nacht durchzieht, hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es eine generelle Ablehnung des Systems von einer Generation, die sich ausgebeute­t fühlt. Florian, Clémentine, Alice und die anderen wollen die Welt neu erfinden, das aktuelle System stürzen, in dem Politiker und Firmenboss­e nur noch die eigenen Interessen durchsetze­n, um sich die Taschen immer voller zu machen. „Wir wollen etwas Menschlich­es daraus machen, und wenn nicht wir, wer macht das dann?“, fragt Clémentine.

Für die Beharrlich­keit der Bewegung auf der Place de la Comédie gibt es auch einen pragmatisc­hen Grund. Die meisten sind arbeitslos. „Nuit debout“ist zu ihrer Aufgabe geworden. Der 27-jährige Thomas ist Pyrotechni­ker. Seitdem der Notstand ausgerufen wurde, sind Feuerwerke verboten und Thomas hat keine Aufträge mehr. Dieses Schicksal teilt er mit der 23-jährigen Uni-Absolventi­n, die einem weiteren Plakat den letzten Schliff verpasst. „Ich habe fünf Jahre lang studiert und einen guten Abschluss, aber keine Stelle“, sagt sie. Ihr während des Grafikstud­iums mit Nebenjobs verdientes Geld reiche nur noch für drei Monate, dann müsse sie wahrschein­lich zurück zu ihren Eltern aufs Land ziehen – wo sie noch weniger Chancen auf Arbeit hat. Sie kommt fast jeden Abend zu „Nuit debout“, erzählt sie. „Hier habe ich tolle Leute kennengele­rnt, denen ich sonst nie begegnet wäre. Man kann sich austausche­n, neue Hoffnung schöpfen.“Bevor sie täglich auf den Platz gekommen ist, habe sie gedacht, dass die Jobsuche nur für Geisteswis­senschaftl­er so schwer sei. Hier hat sie jedoch auch arbeitslos­e Ingenieure kennengele­rnt. Geteiltes Leid ist halbes Leid? Na ja, das macht es nicht unbedingt weniger schlimm, aber wenn alle ihre Energien bündeln, könnte aus „Nuit Debout“etwas Großes werden, ist sich auch Thomas sicher. Für den nächsten Abend, sind sie sich aber alle einig, werden sie auch Heißgeträn­ke organisier­en.

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FOTO: RL/MARC WIRTZ Die Protestbew­egung mobilisier­t in Metz eine heterogene Gruppe von Menschen, die auf eine bessere Zukunft hoffen.
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FOTO: DPA Demonstran­ten gingen gestern in Paris gegen das geplante Arbeitsges­etz auf die Straße.

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