Ein Argentinier als Gewissen Europas
Franziskus in Rom mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet – Papst mahnt Solidarität mit Flüchtlingen an
In Rom strahlt die Sonne, aber über Europa liegen dunkle Wolken. Der Papst nutzt die Karlspreis-Verleihung, um eine Vision für den zerrissenen Kontinent zu zeichnen. Im Mittelpunkt seiner aufrüttelnden Rede: der Mut zum Träumen – und zum Handeln.
Rom. Einen passenderen Ort für die Verleihung des Karlspreises an Papst Franziskus hätte der Vatikan kaum wählen können. Die ebenso prunkvolle wie wuchtige Sala Regia im Apostolischen Palast war dem Gewicht der Botschaft des Papstes an Europa angemessen. „Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?“, fragte der 79-Jährige. Ruhig und liebevoll klang seine Stimme, nicht vorwurfsvoll oder provozierend. „Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten?“Die rund 500 aus der alten Kaiserstadt Aachen angereisten Gäste saßen nachdenklich da, links von ihnen die Seeschlacht von Lepanto – eindrucksvoll von RenaissanceMeister Giorgio Vasari als Fresco auf der Wand verewigt.
Menschen auf Schiffen reichen darauf Ertrinkenden die Hände, Verzweifelte klammern sich an Boote, andere versinken bereits in den Fluten. Die Szene ruft hochaktuelle Bilder ins Gedächtnis, Berichte von immer neuen Tragödien im Mittelmeer. Europa ist auf dem Weg, sich wegen des Flüchtlingszustroms zwischen neuen Nationalismen und einem wieder aufblühenden Populismus zu verlieren, davor warnen Experten schon lange.
Deshalb müsse der Kontinent sich endlich an seine ursprünglichen Ideale erinnern, fordert der Papst. „Die Pläne der Gründerväter, jener Herolde des Friedens und Propheten der Zukunft, sind nicht überholt: Heute mehr denn je regen sie an, Brücken zu bauen und Mauern einzureißen“, sagt er – wohl auch mit Blick auf Pläne
Franziskus freut sich über die Glückwünsche von Kommissionschef Jean-Claude Juncker.
Österreichs, am Brennerpass wieder Grenzkontrollen einzuführen, um den Flüchtlingszustrom aus Italien einzudämmen. Pläne, die von Italien wie auch Deutschland gleichermaßen kritisiert werden.
Den Karlspreis bekam Jorge Mario Bergoglio, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er Südamerikaner ist und somit einen anderen, unverstellten Blick auf Europa hat. Viele betrachten ihn fast selbst wie einen Propheten, der Rettung bringen kann. Denn Franziskus bezieht Stellung, mischt sich ein – als Papst und als Mensch. Oft hat er seit seinem Amtsantritt 2013 an das Gewissen der Menschheit appelliert und zu mehr Solidarität mit Bedürftigen aufgerufen. Und er hat Barmherzigkeit vorgelebt, hat Obdachlose in den Vatikan eingeladen, Kranke besucht, Flüchtlingen die Füße gewaschen und mehreren syrischen Familien Zuflucht im Kirchenstaat gewährt.
Denn besonders das Schicksal der Flüchtlinge liegt dem Argentinier am Herzen: Er zeigt Mitgefühl, wo andere ausgrenzen und braut Brücken, wo andere Zäune errichten. Schon 2014 hatte er vor dem Europaparlament betont, Europa dürfe die Ideale seiner Gründerväter nicht verraten und müsse um jeden Preis verhindern, dass das Mittelmeer sich in einen riesigen Friedhof Verzweifelter verwandele. Die mitreißende Rede des Papstes kam an bei den Mächtigen und Entscheidern in Europa. Sie habe Franziskus’ Worte als „Ermutigung“empfunden, sagte Kanzlerin Angela Merkel, die wie auch die EU-Spitzen eigens nach Rom gereist war. Der Argentinier habe dazu aufgefordert, „Europa zusammenzuhalten, sei es, wenn es um die Währung geht, sei es, wenn es um den Schutz unserer Außengrenze geht und vor allen Dingen, die Menschlichkeit und die humanitäre Aufgabe Europas nicht zu vergessen“, lobte Merkel. Immer wieder betont Franziskus in seiner Rede, von welcher Art Europa er träumt: einem jungen, brüderlichen, auf Nächstenliebe gründenden und „nicht von den endlosen Bedürfnissen des Konsumismus“beschmutzten Kontinent. Aber manche Träume bleiben eben Träume. Und so klingt der letzte Satz der Rede fast schon etwas resigniert: „Ich träume von einem Europa, von dem man nicht sagen kann, dass sein Einsatz für die Menschenrechte an letzter Stelle seiner Visionen stand.“
Kann der Aufruf des Papstes zu einem „neuen europäischen Humanismus“wirklich Kräfte in einem auseinanderdriftenden Europa freisetzen? Jedenfalls bedurfte es offenbar eines 79 Jahre alten Argentiniers, freilich mit italienischen Wurzeln, um dem Kontinent die eigene Orientierungslosigkeit vor Augen zu führen. Die Wahl des Papstes als Preisträger spricht allein schon Bände: Die Suche nach einer Persönlichkeit, die die europäische Idee glaubwürdig am Leben erhält, ist schwer geworden. Dabei wird der Pontifex, wie auch in seiner eigenen Kirche, als Symbol und Projektionsfläche überfrachtet. Die EU-Politiker, allen voran die teilweise zerstrittenen Regierungen, werden den Weg aus der Krise alleine finden müssen. Ganz ohne den zur Heilsfigur stilisierten Franziskus.