Endspurt auf der Insel
Im Streit um Europa sind die Briten immer noch wankelmütig
Europas bunteste Metropole hat einen neuen Bürgermeister, der vor allem eins ist: das Gegenteil seines Vorgängers Boris Johnson. Sadiq Khan ist kein brillanter Rhetoriker wie der schillernde Blonde, der London zwar immer als „beste Stadt auf dem Planeten“bewarb, sie aber in vielen Bereichen sträflich vernachlässigte. Auch Johnsons Charisma und Witz kann Khan nicht bieten. Trotzdem passt der Muslim, Sohn pakistanischstämmiger Einwanderer, besser an die Spitze dieser lebhaften Stadt, die sich so selbstverständlich international präsentiert wie kein anderer Ort.
Nun muss Khan, der den Überlebenskampf vieler Londoner aus eigener Erfahrung kennt, zügig deren Probleme anpacken. Überlasteter Nahverkehr und chronischer Wohnungsmangel zwingen Normal- und Geringverdiener aus der Stadt. Die Ungleichheit wächst unaufhörlich, der Frust ebenfalls. Zwar hatte auch Khans Konkurrent Zac Goldsmith versucht, die Not der Londoner zu thematisieren. Doch dem Milliardärssohn fiel die Rolle des sozialen Kämpfers nicht gerade zu. Außerdem blamierte er sich durch einen garstigen Wahlkampf, indem er Khan auf beschämende Weise in die Nähe islamistischer Extremisten rückte. Die Bürger haben ihn zurecht dafür abgestraft.
Für Europa ist der Sieg des Labour-Manns Khan ein gutes Signal. Auch wenn das Referendum über Großbritanniens EU-Mitgliedschaft
GLOSSE im Wahlkampf kaum Thema war, wird der neue Bürgermeister in den nächsten Wochen für den Verbleib kämpfen. Den drohenden „Brexit“nennt er eine Katastrophe, vor allem für den Finanzplatz London. Doch das Desaster könnte tatsächlich eintreten: In den Umfragen liegen beide Lager etwa gleichauf. Der Ton ist bereits jetzt bitter, und mit den Fakten nehmen es viele Briten nicht mehr so genau. Die Debatte um Europa wird viel zu emotional geführt.
Wollen die Briten bleiben oder gehen? Auch wenn man die Wahlen vom Donnerstag gern als Stimmungstest für den Volksentscheid heranziehen würde – sie geben kaum Aufschluss darüber, in welche Richtung das Königreich steuert. Einerseits lässt der Erfolg der EUfeindlichen Unabhängigkeitspartei Ukip in Wales vermuten, dass die Europa-Skepsis auf der Insel wächst. Die Populisten, die vor allem gegen Einwanderung wettern, haben auch in England mit Abstand am meisten Stadträte hinzugewonnen. Dagegen siegte in Schottland die EU-freundliche SNP, in London lag Labour vorn. Auch im Rest des Landes waren die Resultate äußerst gemischt, was zeigt: Die Ergebnisse dienen kaum als Gradmesser für das Referendum. Das Land hat sich einfach noch nicht entschieden. Den „Brexit“-Gegnern bleiben noch knapp sieben Wochen, die Bevölkerung vom Verbleib zu überzeugen. Sie sollten die Zeit besser nutzen als bisher.