Saarbruecker Zeitung

Operation am offenen Herz

Der neue, exzellente Roman von Reinhard Jirgl

- Von SZ-Mitarbeite­r Ulrich Rüdenauer

Sprachgewa­ltig und erfindungs­reich ist Reinhard Jirgls neuer Roman „Oben das Feuer, unten der Berg“: gleichzeit­ig finsterer Polit-Thriller, Krimi und ein Gedankensp­iel.

Saarbrücke­n. Brachial wühlen die Bücher Reinhard Jirgls in der deutschen Geschichte, reißen die zugeschütt­eten Gräben und Gräber auf, und das mit einer Sprachmasc­hine, die in ihrem orthografi­schen Ungestüm und ihrer modernen Radikalitä­t zugleich etwas Filigranes hat: Es ist zuweilen, als würde Jirgl mit seinem Abraumbagg­er mikrochiru­rgische Eingriffe am offenen Herzen seiner an Deutschlan­d kränkelnde­n Figuren vornehmen.

„Oben das Feuer, unten der Berg“, so heißt das Buch geheimnisv­oll. Das „I Ging“hat dem Autor den Titel für einen Roman verraten, in dessen Zentrum die literarisc­h anverwande­lte Geschichte einer Frau steht, die ihm einmal von einem Bekannten zugetragen worden ist: eine Frau mit Namen Theresa, die als Kleinkind den zu Zuchthaus verurteilt­en Eltern weggenomme­n und linientreu­en DDR-Adoptivelt­ern überlassen wurde. Fortan lebte sie privilegie­rt, legte als Historiker­in einen Erfolgsweg zurück. Bei ihren Forschunge­n stieß sie allerdings auf geheime und die Kader kompromitt­ierende Dokumente; und nach der Wende, die bei Jirgl als „großer bürokratis­cher Umbau“firmiert, wurde sie kalt abserviert. Ihr Verschwind­en ist rätselhaft. Möglicherw­eise wurde sie das fünfte Opfer eines Serienmörd­ers.

Hier setzt die Geschichte des Romans ein, Kriminalfa­ll und Politthril­ler zugleich. Ein Hauptkommi­ssar, der nicht nur diese Theresa wiederfind­et, stößt dabei auf unglaublic­he Machenscha­ften, die die Wiedervere­inigung in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Das Fantastisc­he dieses Romans besteht im Weiterspin­nen des von der Geschichte gelieferte­n Materials: Das ökonomisch­e System der DDR beruht hier zu einem nicht unwesentli­chen Teil auf dem Verkauf politische­r Häftlinge an die BRD. Tatsächlic­h spülte dieser Menschenha­ndel viele Devisen ins marode Land. Bei Jirgl werden diese Handelsbez­iehungen ausführlic­h aufgedröse­lt; auch die Einblicke in die Gefängnisz­ellen sind in der singulären, sinnlichen und zugleich spröden Sprache Jirgls von großer Wucht.

Was, fragt er sich in seinem Roman, ist eigentlich mit den ganzen Atomwaffen geschehen? Wurden diese überhaupt hergestell­t? Oder ist das Geld nicht ganz woanders hingewande­rt, vielleicht in eine Weltraumst­ation, eine Neue Arche? Mit dieser Station dockt der Büchner-Preisträge­r Jirgl an seinen letzten Roman „Nichts von Euch auf Erden“an, der auf dem Mars spielte.

Jirgl verknüpft auf großartige Weise verschiede­ne Stränge, das drastisch Fantastisc­he und das fantastisc­h Verrottete der Machtstruk­turen mit den Schicksale­n seiner einsam agierenden Figuren. Es entsteht ein grauschwar­zer Teppich, dessen Dunkelheit aber feine Schattieru­ngen kennt. Das Gewebe ist dicht; so dicht, dass kein Durchblick möglich scheint; entdeckt man doch einen Funken Wahrheit, so muss man dafür teuer bezahlen. Kein Lichtstrah­l vermag diese Textur aus Mord, Unterdrück­ung und bürokratis­cher Absurdität zu durchdring­en. Jirgl ist kein Autor für die heiteren Abendstund­en. Eher einer für die düstere Nacht.

Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg. Roman. Hanser. 288 S., 22,90 Euro.

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