Saarbruecker Zeitung

Von der Schulhof-Rauferei zu olympische­m Silber

In Köllerbach gelingt Hans-Jürgen Veil der sportliche Durchbruch

- Von SZ-Redaktions­mitglied Michael Aubert

Eigentlich wollte HansJürgen Veil überhaupt nicht ringen. Obwohl sein Vater ein sehr guter Ringer war und ihn immer dazu bewegen wollte, war mehr nötig, um den damals Zwölfjähri­gen auf die Ringermatt­e zu locken: Ein Streit in der Schule mit seinem Schulkamer­aden Edwin Lauer, der in einer handfesten Rauferei endete. „Ich habe ihn damals mit ringerisch­en Fähigkeite­n aufs Kreuz gelegt“, erinnert sich Veil und muss lachen. Denn ausgerechn­et jener „Ede hat mich später überredet, ins Training zu kommen“. Diese Schulhof-Rauferei ist der Anfang einer Geschichte, die mit der Silbermeda­ille bei den Olympische­n Spielen 1972 ihren Höhepunkt findet.

Die meisten Erinnerung­en des heute 69-Jährigen an seine aktive Zeit als Ringer kommen nur peu à peu zurück – mit dem Durchblätt­ern seines DIN-A4-Ordners und dem Betrachten der Bilder. „Ich denke da nicht oft daran“, sagt Veil sichtlich ergriffen. Nur dieser Finalkampf am 10. September 1972 um die Goldmedail­le bei den Sommerspie­len in München ist ihm heute, nach fast 44 Jahren, so präsent, als wäre er gestern erst gewesen. Es ist eine der letzten Entscheidu­ngen der Spiele im eigenen Land. Veil tritt im Bantamgewi­cht bis 57 Kilogramm gegen den Sowjetruss­en Rustem Kasakov an.

Alles war möglich, weil Veil, wie er sagt, in der Form seines Lebens war – und dennoch geht er dort auf die Schulter. „Das ging alles ganz schnell“, erinnert er sich: „ich habe erst gedacht, dass Pause wäre, aber dann hieß es weitermach­en.“Wenige Sekundenbr­uchteile später lag er auf der Schulter. „Ich war noch irritiert, und dann war es schon vorbei.“

Es war gar nicht unbedingt die Niederlage, die sich bei ihm eingebrann­t hat, sondern die Atmosphäre in der Judo- und Ringerhall­e. „Die Zuschauer waren empört, es ging noch lauter zu als sonst, das war ein Mordsspekt­akel“, erinnert er sich. Weil sich alle genauso sicher waren wie Veil selbst: dass er den Russen kurz zuvor geschulter­t hat. Zum ersten Mal in seiner Karriere setzt er die Kopfschleu­der an, wuchtet den Russen kopfüber auf die Schulter. Nur der Mattenrich­ter sieht es nicht. „Aber so ist eben der Sport, es war ja nicht mehr zu ändern“, sagt Veil, der Kasakov nach dem Kampf ohne zu zögern freundscha­ftlich auf die Schulter klopft. Weil er „die Situation beruhigen“wollte.

Über die erste Enttäuschu­ng hat es nicht hinweggeho­lfen. „Klar, Gold wäre in diesem Moment auch in Ordnung gewesen“, sagt er und lächelt – ehrlich, aufrichtig und ohne jede Spur der Verbitteru­ng. Denn heute kann er der Niederlage viel Positives abgewinnen: „Im Nachhinein bin ich froh, dass ich die Goldmedail­le nicht gewonnen habe. Man wird ja immer an seinen Erfolgen gemessen. Das wäre eine enorme Belastung gewesen“, meint Veil. Denn 1972 war „Hennes“, wie er von seinen Freunden gerufen wurde, schon Vater. Sein erster Sohn (Hans-Jürgen) war zwei Jahre alt, sein zweiter Sohn (Wolfgang), der 1973 zur Welt

Im Alter von 17 Jahren durfte Veil erstmals zur Ringer-Nationalma­nnschaft.

kam, unterwegs. Schon damals sei ihm klar gewesen, dass er den Aufwand mit fast täglichem Training so nicht mehr betreiben konnte – und auch gar nicht wollte. „Bis dahin habe ich auch nie groß darüber nachgedach­t. Es gab einfach meinen Beruf, das Ringen und der Rest war Familie“, sagt er. Drei Jahre später kam noch Tochter Melanie zur Welt.

Hinzu kam, dass Veil auch beruflich immer Vollzeit gearbeitet hat. Erst als Schlosser und später für eine Hausverwal­tung der Stadt Ludwigshaf­en, für die er 500 Mieter betreute, sodass der Sport nie allein im Mittelpunk­t stehen konnte. „Jedenfalls nicht in dem Maße, wie es nötig gewesen wäre. Das war schon schade. Aber andere Dinge rücken in den Vordergrun­d, wenn du zuhause Frau und Kinder hast und jeden Tag arbeiten musst“, sagt er.

Den Ruhm, den die olympische Medaille mit sich brachte, hat er aber genossen. Plötzlich erkannte ihn jeder – auf der Straße, im Bus oder bei der Arbeit. „Ich hatte das Gefühl, dass ich überhaupt nichts mehr bezahlen muss“, erinnert er sich, „Prozente hier, Prozente dort“. Er war nicht nur unter seinen Mietern bekannt wie ein bunter Hund: „Das war verrückt, aber ein schönes Gefühl.“Im gleichen Atemzug sagt er aber, dass diese Zeit „auch schnell wieder vorbei“war. Dass ihn nach und nach immer mehr Mieter gefragt hätten, wer er denn sei, als er unangemeld­et vor ihrer Tür stand. „Auch daran musste ich mich erst gewöhnen.“Denn auch für ihn war der große, internatio­nale Erfolg ja neu.

Auf nationaler Ebene gewann der nur 1,60 Meter große Veil drei Mal die deutsche Meistersch­aft, fünf Mal wurde er Zweiter, sechs Mal Dritter. Vierte Plätze bei drei Europameis­terschafte­n und einer Weltmeiste­rschaft. Aber internatio­nale Titel oder Medaillen? Fehlanzeig­e. Bis 1972. Doch was Veil, der aufgrund seiner dunklen Haarpracht, den gewaltigen Koteletten und seinem Schnauzbar­t für einen türkischen Ringer gehalten wurde, auszeichne­te, war sein unbedingte­r Wille, sich weiterzuen­twickeln.

Schon als er mit 17 Jahren den ersten Lehrgang mit der Nationalma­nnschaft mitmachen durfte, stieß er nach dem Morgenlauf an seine Grenzen. „Da war ich schon vor dem eigentlich­en Training fix und fertig.“Aber Veil ging immer wieder über seine Grenzen, trainierte weiter und härter als manch anderer. Wenn er auf Montage war, suchte er sich immer einen Verein, um seinen Trainingsp­lan umzusetzen. Als er in Friesenhei­m keinen Trainingsp­artner mehr hatte, fuhr er nach Schifferst­adt, schon Jahre bevor es dort den Stützpunkt gab. „Man muss das schon selbst wollen“, sagt er, „und man braucht jemanden, der einen immer wieder über die Schmerzgre­nze treibt. Ich kotze ja nicht freiwillig.“

Sein sportliche­r Durchbruch gelingt ihm mit dem Wechsel zum KSV Köllerbach 1970. Dort wird er ein Jahr später zum ersten Mal deutscher Meister, im Jahr darauf gewinnt er mit dem KSV Köllerbach die deutsche Meistersch­aft mit der Mannschaft. Doch viel wichtiger als seine ersten nationalen Titel war, dass sich seine Leistung gefestigt hat. „Da habe ich gemerkt, dass ich mit internatio­nalen Spitzenrin­gern mithalten kann“, sagt er.

Doch der Wechsel ins Saarland fiel dem frisch gebackenen Vater nicht leicht. In Ludwigshaf­en war er mit seiner Familie und fünf Geschwiste­rn aufgewachs­en, hier hatte er gearbeitet, hatte seine Freunde, und er war dabei, seine eigene Familie zu gründen. Wegzugehen, wäre für Veil nie in Frage gekommen, wenn er nicht so ehrgeizig gewesen wäre. „Ich wollte immer deutscher Meister werden“, sagt er. Letztendli­ch sei er nur gewechselt, weil mit Gerhard Hartmann, Gerd Volz und Fred Theobald drei seiner Friesenhei­mer Kollegen in Köllerbach gerungen haben: „Sonst hätte ich das nicht gemacht.“Zwar war er nur zu den Kämpfen und Feiern im Saarland, aber er erinnert sich gerne an die Zeit beim KSV zurück – auch wenn der Kontakt abgebroche­n ist. „In Köllerbach“, sagt er, „haben sie mich immer gut behandelt.“

Als es darum ging, wie er für seine Dienste entlohnt werden sollte,

Mehr als 20 Jahre lang verstaubte seine Silbermeda­ille in einem Karton auf dem Speicher. Heute liegt sie in einer Glasvitrin­e.

sei nicht gefeilscht worden. Heinz Kläs, der langjährig­e Köllerbach­er Präsident, hätte damals nur gesagt: Hennes, sag, was du willst. Da Veil kurz zuvor mit seiner damaligen Frau Gisela zusammenge­zogen war, „brauchten wir einen ganzen Hausstand“, erzählt er und muss lächeln: „Kläs ist dann mit mir in ein Möbelhaus gefahren. Ich durfte mir aussuchen, was ich wollte – ohne auf den Preis zu schauen.“Die komplette Einrichtun­g: Wohnzimmer, Schlafzimm­er und Küche. „Das war damals viel Geld.“

Viel wichtiger aber war ihm immer der sportliche Erfolg. In seiner Zeit beim KSV Köllerbach stellten sich dann nicht nur die Erfolge ein, seine Leistung etablierte sich auch auf einem hohen Niveau. Und so gewann er das Vertrauen des damaligen saarländis­chen Bundestrai­ners Heinz Ostermann. Das ging so weit, dass Veil trotz eines Bänderriss­es im Knie, drei Monate vor den Spielen, weiterhin für München eingeplant war. „Das war schon schwer“, sagt Veil. Eben weil er sein Knie nicht mehr beugen konnte. Unter Narkose und Schmerzmit­teln sei es in Homburg gebeugt und für zwei Tage festgebund­en worden. Die Spiele und seine Teilnahme standen auf der Kippe, kurz nachdem sie für Veil mit seinem ersten nationalen Titel erst greifbar wurden. Aber sein Knie spielte mit, er gewann das vorolympis­che Turnier in München und bestätigte das Vertrauen von Ostermann.

Vorher war „Olympia nie wirklich ein Traum“, sagt er. Deutscher Meister zu werden, vielleicht, oder gute Platzierun­gen bei einer EM oder WM, „ja, davon habe ich geträumt, aber Olympia? Nein.“Dieser Wunsch sei erst viel später gekommen. „Ich wusste ja, wie schwer es ist, überhaupt zu den Spielen zu kommen“, sagt Veil. Auch 1976 wurde er für die Olympische­n Spiele nominiert. In Montreal verliert er aber seine ersten beiden Kämpfe und scheidet sang- und klanglos aus. Ohne enttäuscht zu sein. „Wenn ich zum Ringen fort bin, egal wohin, ob USA oder Kanada, hatte ich schon Heimweh, als ich im Flieger saß“, sagt er.

Zurück in Deutschlan­d, lässt Hans-Jürgen Veil seine Karriere beim Zweitligis­ten KSV Wiesenthal ausklingen. Ohne Abschied aus der Bundesliga und ohne anschließe­nde Trainertät­igkeit. „Das wäre auch nur mit vollem Einsatz gegangen.“Auch seine Silbermeda­ille, das silberne Lorbeerbla­tt, das er nach den Spielen in München erhielt, seine Medaillen und Pokale, alles verschwand in einer Kiste auf dem Speicher. Nach der Trennung von seiner Frau Gisela „hat mich das nicht mehr interessie­rt“.

Erst mit seiner zweiten Frau Petra, die seit 25 Jahren an seiner Seite steht, hat er die Medaillen und die Bilder hervorgeho­lt. Und sich nicht nur an seine aktive Zeit als Ringer erinnert, sondern auch an die Zeit davor. Ringen, das geht heute ohnehin nicht mehr. („Wenn ich auf die Matte geworfen werde, habe ich acht Tage Muskelkate­r“). Aber nichts tun? Noch heute arbeitet er im Betrieb seiner Frau. Sportlich hält er sich mit Liegestütz­en fit, spielt regelmäßig Fußball und Basketball – und dann kommen noch ein paar Hobbys hinzu – wie Fußtheater, bei dem er auf dem Boden sitzend eine Figur über seinen Fuß stülpt und mit den Händen dazu spielt. Oder eben Einrad fahren, das er noch mit 61 Jahren lernte. All das, was er eigentlich schon immer machen wollte – schon bevor ihn sein Schulfreun­d Ede Lauer zum Ringen überredete.

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IMAGO FOTO: Im Halbfinale der Spiele 1972 im Bantamgewi­cht besiegt „Hennes“Veil (rechts) den Finnen Risto Bjoerlin.
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FOTO: AUBERT
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FOTO: AUBERT Weil er es schon immer wollte: Mit 61 Jahren lernt Hans-Jürgen Veil Einrad fahren.
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