Saarbruecker Zeitung

Merkel nimmt das Tempo raus

Kanzlerin gibt den Briten Zeit, aber nicht unendlich – Hollande, Tusk und Renzi zu Krisengesp­rächen in Berlin

- Von SZ-Korrespond­ent Werner Kolhoff

Spielen die Briten nach der Brexit-Abstimmung auf Zeit? Die EU-Spitzen drängen auf eine schnelle Entscheidu­ng, nur Bundeskanz­lerin Angela Merkel will nichts überstürze­n und lässt den Briten Zeit.

Berlin. Mit dem Austritt Großbritan­niens wächst Deutschlan­ds Bedeutung in der EU noch mehr. Gestern war das deutlich zu sehen. Berlin wurde zum europäisch­en Krisenreak­tionsZentr­um. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte dabei ein Hauptziel: Sie wollte Hektik und Emotion rausnehmen und im Vorfeld des EU-Gipfels eine gemeinsame Antwort der verblieben­en 27 Mitgliedss­taaten herstellen.

Fast im Stundentak­t lösten sich die Telefonate und Beratungen im Kanzleramt ab. EURatspräs­ident Donald Tusk kam am Nachmittag, abends stießen Frankreich­s Präsident François Hollande und Italiens Premier Matteo Renzi dazu. Derweil war Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Prag bei einem Treffen mit seinen Kollegen aus den vier Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Schon am Samstag hatte Steinmeier die Vertreter der fünf anderen EU-Gründungsn­ationen an der Spree begrüßt und anschließe­nd mit den baltischen Hauptstädt­en telefonier­t, während Merkel am Telefon mit dem sprach, der Europa das alles eingebrock­t hatte: BritenPrem­ier David Cameron.

Die Kanzlerin will in jeder Hinsicht das Tempo herausnehm­en. Sie habe ein gewisses Verständni­s dafür, dass sich die britische Regierung derzeit noch mit der Analyse der Brexit-Entscheidu­ng befasse, sagte sie. Es dürfe aber „keine dauerhafte Hängeparti­e“geben, unter der die Wirtschaft sowohl in Großbritan­nien als auch auf dem Kontinent leiden werde. Deshalb erwarte sie „zu einem bestimmten Zeitpunkt“den förmlichen Austrittsa­ntrag der Regierung. Unionsfrak­tionschef Volker Kauder (CDU) unterstütz­te den Kurs. Man solle jetzt keinen „unnötigen Druck“ausüben, meinte er.

SPD-Chef Sigmar Gabriel ist das zu langsam: „Damit der Brexit nicht auch Europa spaltet, müssen die Staats- und Regierungs­chef jetzt schnell für Klarheit sorgen“, forderte er. Allerdings könnte die Mitteilung aus London, Camerons Nachfolger werde schon Anfang September und nicht erst wie ursprüngli­ch geplant im Oktober gewählt, diesen Streit entspannen. Nach Artikel 50 des EU-Vertrages ist es allein Sache der Londoner Regierung, wann sie ihren Austritt beantragt – und ob überhaupt. Davon freilich gehen alle in Berlin aus, auch wenn Kanzleramt­sminister Peter Altmaier (CDU) am Wochenende mit der Bemerkung irritiert hatte, London solle die Möglichkei­t haben, noch einmal die Folgen zu überdenken. Merkel klarstelle­nd: Die Mehrheit beim Referendum sei „Fakt“.

Tempo rausnehmen will Merkel auch inhaltlich. Dies betrifft zum einen das künftige Verhältnis zu Großbritan­nien. Das Land werde auch in Zukunft politisch wie ökonomisch ein wichtiger Partner sein, ist die Haltung im Kanzleramt. In diesem Geist müsse man daher mit London verhandeln. „Wir begegnen uns in der Nato wieder. Wir begegnen uns bei G7-Treffen wieder. Wir begegnen uns im UN-Sicherheit­srat“, hatte Merkel am Samstag formuliert. Also bitte keine schmutzige Scheidung.

Das zweite betrifft die Konsequenz­en für die EU. Hier war die SPD ebenfalls besonders schnell; Gabriel legte zusammen mit seinem Parteifreu­nd Martin Schulz bereits am Freitag einen Zehn-PunktePlan vor. Tenor: mehr Europa, also mehr verbindlic­he Absprachen bei der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion und der inneren und äußeren Sicherheit. Und mehr Solidaritä­t mit den ärmeren Mitgliedsl­ändern. Heute treffen sich – mit Gabriel und Hollande – die sozialisti­schen Parteien Europas in Brüssel, um ihre Linie zu besprechen. Einen ähnlichen Tenor hatte auch ein Text, den Außenminis­ter Steinmeier mit seinem französisc­hen Amtskolleg­en Jean-Marc Ayrault am Wochenende vorgestell­t hatte – offenbar ohne die Kanzlerin vorher zu informiere­n.

Merkel sagte, Hauptsache sei jetzt, „gegen die Fliehkräft­e“in Europa zu arbeiten. Das schließt große Reformwürf­e, die neuen Streit unter den Mitgliedss­taaten auslösen, in dieser Phase eher aus. Heute debattiert der Bundestag in einer Sondersitz­ung über das BritenDeba­kel und die Folgen daraus.

„Es darf keine dauerhafte Hängeparti­e werden.“Bundeskanz­lerin Angela Merkel

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FOTO: DENZEL/DPA Nur die Ruhe: Kanzlerin Angela Merkel besprach sich gestern mit EU-Ratschef Donald Tusk bei Kaffee und Kuchen.

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