Brexit verunsichert Wirtschaft
Volkswirte fürchten Auswirkungen auf deutschen Arbeitsmarkt – Börsenfusion offen
Wenige Tage nach dem BrexitVotum der Briten gehen die ersten Weichenstellungen los. Unternehmen korrigieren ihre Prognosen, sondieren neue Standorte, Fusionen werden infrage gestellt.
London/Frankfurt. Während auf politischer Ebene noch über das Wie, das Warum und das Ob eines britischen Austritts aus der EU diskutiert wird, gibt es bereits wirtschaftliche Auswirkungen der BrexitEntscheidung. So hat die britische Fluglinie Easyjet schon einmal ihre Gewinnprognose für das laufende Jahr gekappt. Der Luftfahrtverband IATA schätzt, dass der erwartete wirtschaftliche Abschwung in Großbritannien und der Wertverfall des Pfunds die Zahl der Fluggäste aus dem Vereinigten Königreich bis 2020 um bis zu fünf Prozent nach unten drücken. Der Billigflieger Easyjet ist noch pessimistischer: Schon im zweiten Geschäftshalbjahr bis Ende September werde der Umsatz um mindestens einen mittleren einstelligen Prozentsatz zurückgehen, verkündete die Airline gestern.
Tatsächlich ist die britische Währung weiter unter Druck. Gestern fiel das Pfund noch einmal unter den Tiefstand vom Freitag. mit 1,3222 Dollar war das Pfund so wenig wert wie zuletzt vor dreißig Jahren. Schon am Freitag hatte das Pfund nach der Brexit-Verkündung über elf Prozent an Wert verloren.
John Cryan, Vorstandchef der Deutschen Bank, erwartet, dass der Finanzplatz in London durch den Brexit an Bedeutung einbüßen wird. „Der Finanzplatz London wird nicht sterben, aber er wird schwächer“, sagte der Brite dem „Handelsblatt“. Frankfurt hat nach Einschätzung vieler Experten als Alternative zu London gute Karten. Schon im April hatte Cryan auf die Frage, wohin die Deutsche Bank im Falle eines Brexit ihre Londoner Aktivitäten mit gut 8000 Mitarbeitern verlegen könnte, gesagt: „Für uns würde es, wenn überhaupt, Frankfurt werden.“
Offen ist in diesem Zusammenhang auch die geplante Fusion der Deutschen Börse mit der Londoner Stock Exchange. Aktionärsvertreter forderten, das Vorhaben noch einmal genau zu prüfen. „Die Führung sollte ihre Fusionspläne nochmals kritisch hinterfragen und massiv anpassen oder ganz begraben“, forderte der Vizepräsident der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), Klaus Nieding. „Die Börsenaufsicht kann nach dem Brexit einem Sitz der fusionierten Börse in London jedenfalls nicht zustimmen.“
Offen ist auch die Zukunft der Europäischen Bankenregulierung (EPA). Insidern zufolge wird bereits der Abzug der Behörde aus London vorbereitet, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Demach werde die EBA mit ihren 159 Mitarbeitern schon bald an einen neuen Standort in der Europäischen Union verlegt. Reuters-Berichten zufolge sind auch größere Institute wie JP Morgan bereits dabei, in der EU neue Standorte für ihre Banker und Händler zu finden. Und bei einer Umfrage des englischen FirmenchefNetzwerks Institute of Directors haben 22 Prozent angegeben, dass sie über eine Verlagerung von Geschäftsaktivitäten nachdenken.
Nicht nur in Großbritanniens Wirtschaft werden die BrexitWellen zu spüren sein, auch auf den deutschen Arbeitsmarkt wird er sich Volkswirten zufolge auswirken. Gerade in der von Großbritannien abhängigen Exportindustrie könnten geplante Stellen unbesetzt bleiben, schätzen Ökonomen. Allianz-Volkswirt Rolf Schneider schätzt, dass der EU-Ausstieg Großbritanniens die deutsche Wirtschaft ein Prozent Wirtschaftswachstum kosten werde. Das werde dann auch zu steigender Arbeitslosigkeit führen. Für CommerzbankChefvolkswirt Jörg Krämer hängt die weitere Entwicklung vor allem von der Frage ab, wie die Trennung vonstatten geht. Eine saubere Trennung sei nicht nur im Interesse Großbritanniens, sondern auch der europäischen Wirtschaft.
Interesse an einem friedlichen Trennungsprozess äußerte auch der chinesische Premier Li Keqiang. Angesichts der „neuen Unsicherheiten“für die globale Wirtschaft sei es wichtig, auf eine „vereinte und stabile Europäische Union“ebenso hinzuarbeiten wie auf ein „stabiles und blühendes Großbritannien.“dpa/afp/jwo