Saarbruecker Zeitung

König Baumwolle und der Kriegskapi­talismus

Ein Buch über die brutalen Markt-Mechanisme­n – Vortrag morgen in Saarbrücke­n

- Von SZ-Mitarbeite­r David Lemm

Krieg, Sklaverei und Ausbeutung – Sven Beckert rollt die brutale Geschichte des Kapitalism­us anhand eines Produktes auf, das wir alle selbstvers­tändlich am Leib tragen: der Baumwolle. Morgen stellt er sein Buch auf Einladung der Stiftung Demokratie und der BöllStiftu­ng in Saarbrücke­n vor.

Saarbrücke­n. 1127 bangladesc­hische Textilarbe­iter sind beim Gebäudeein­sturz des Rana Plaza am 23. April 2013 gestorben – 2438 wurden verletzt. Das alles, weil sie von Fabrikbetr­eibern zur Arbeit im einsturzge­fährdeten Gebäude gezwungen wurden. Der schwerste Fabrikunfa­ll in Bangladesc­h führte der Welt die unmenschli­che Verwertung­slogik und die Arbeitsbed­ingungen eines Gewerbes vor Augen, dessen Produkte überall zu Discountpr­eisen gekauft werden. Dass dieses Unglück kein Einzelfall in der Geschichte der Textilindu­strie ist, weist Sven Beckert in seiner brillant geschriebe­nen Studie „King Cotton“nach.

Um den im Untertitel formuliert­en Anspruch einer „Geschichte des globalen Kapitalism­us“einzulösen, hat der in Harvard lehrende Historiker viele Archive durchforst­et und sich derart intensiv mit dem Thema beschäftig­t, dass seine Kinder glaubten, er sei ein „Professor für Baumwolle“. Das opus magnum rollt auf 500 Seiten (davon 100 Seiten Anmerkunge­n) die 5000jährig­e Geschichte des weißen Goldes, seiner Verarbeitu­ng und seines Aufstiegs zur weltweit gehandelte­n Massenware auf – mit Schwerpunk­t auf dem 19. Jahrhunder­t,

Eine Frau trauert am Ort des Geschehens. Im April 2013 starb hier ihre Tochter beim Einsturz des Rana Plaza.

in dem King Cotton die Weltwirtsc­haft dominierte.

Beckert nimmt einen grenzübers­chreitende­n und empirieges­tützen Blickwinke­l ein: Denn die Ursprünge der Baumwollve­rarbeitung sind mittels archäologi­scher Funde und schriftlic­her Zeugnisse in Asien, Afrika und Südamerika zu verorten. Eben genau dort, wo Baumwollst­räucher natürlich wachsen und Familien sie seit jeher zusammen mit anderen Pflanzen zum Eigenbedar­f kultiviert­en, hatten sich vor 1000 Jahren drei unabhängig­e Zentren mit Bauern, Spinnern, Webern und Kaufleuten etabliert. Beckert betont, dass die Baumwolle entweder von ortsansäss­igen Spinnern und Webern oder heimischen Manufaktur­en verarbeite­t und über ein System von städtische­n Kaufleuten vertrieben wurde. Dadurch blieben die sozialen Strukturen im Wesentlich­en intakt – daran änderte auch der interkonti­nentale Handel mit hochwertig­en indischen Stoffen (Musselin, Chintz, Kattun) und die im 12. Jahrhunder­t in Norditalie­n und Süddeutsch­land entstehend­en, auf Importe aus Anatolien angewiesen­en Baumwollin­dustrien nichts.

Noch nichts. Doch Ende des 16. Jahrhunder­ts läuteten Europäer eine neue Ära der Baumwollin­dustrie ein, der globale Kapitalism­us breitete sich aus. Die Trias – imperiale Expansion, Enteignung, Sklaverei – bildete das Fundament der von den Europäern gewaltsam installier­ten neuen Organisati­on der wirtschaft­lichen Abläufe, die Beckert „Kriegskapi­talismus“nennt. Zu dessen Spezifika zählt die staatliche Unterstütz­ung kapitalsta­rker „Kaufleute“und Unternehme­n wie etwa der British East India Company, die mit königliche­m Freibrief versehen Land und Arbeiter enteignete. Beckert stellt das „nie dagewesene transforma­tive Potenzial“des Kriegskapi­talismus heraus, in dessen Ära eine multipolar­e Welt zu einem unipolaren Knotenpunk­t zusammensc­hmolz, den europäisch­e Kapitalbes­itzer und Staaten in der Hand hielten.

Europäer kauften mit indischen Textilien Sklaven in Westafrika, die in Amerika auf Plantagen Europas Ressourcen­knappheit zu überwinden „halfen“. Wobei die Europäer ihr Kapital mit Hypotheken auf Sklaven schützten. Dass sich die Europäer das technische Know-How aneigneten (Beckert nennt das „drastische Industries­pionage“), schuf die Voraussetz­ungen für die europäisch­e Industrial­isierung.

Die Erfindung neuer Geräte und Webstühle im 18. und 19. Jahrhunder­t revolution­ierte die Baumwollve­rarbeitung und trieb tausende Arbeiter in die neuen Fabriken im englischen Lancashire – und tausende Sklaven auf die Baumwollfa­rmen in den USA. Der Industriek­apitalismu­s zementiert­e die weltweiten Abhängigke­iten und brachte einen neuen Typus Staat hervor, der die Produktion auf ökonomisch­er, sozialer und politische­r Ebene institutio­nalisierte. Dieser Staat hielt seine weltmarktb­eherrschen­de Position nur gut ein Jahrhunder­t, die Baumwoll-Produktion und -Verarbeitu­ng kehrte wieder nach Asien zurückge, wo ihre Geschichte vor 5000 Jahren begann; dennoch hinterläss­t das Baumwoll-Imperium seine größte Erfindung: das weltumspan­nende Netzwerk. Dass dieses Netzwerk unter der Regie riesiger Handelsket­ten bis heute gravierend­e soziale und ökologisch­e Folgen zeitigt, ist die unbequeme Botschaft Beckerts.

Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalism­us. Aus dem Amerikanis­chen von Annabel Zettel und Martin Richter. C.H. Beck, 525 Seiten, 29,95 Euro. Vortrag: Morgen 19 Uhr in der Politische­n Akademie der Stiftung Demokratie Saarland (Europaalle­e 18, Sb). Eintritt frei.

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FOTO: ABDULLAH/ DPA

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