Mit dem Taxi zum Blutbad
Selbstmordattentäter reißen an Istanbuler Flughafen über 40 Menschen in den Tod – Kritik an Erdogan wächst
Es ist ein warmer Sommerabend in Istanbul, am Atatürk-Flughafen kommen gerade um diese Tageszeit viele Maschinen aus dem Ausland an. Die Passagiere werden von Freunden oder Verwandten abgeholt, die über eine Zugangsschleuse in die Ankunftshalle des internationalen Teils des Flughafens kommen. Doch irgendetwas stimmt nicht, bemerken einige Polizisten. Die Beamten, so wird es die Zeitung „Hürriyet“später melden, werden misstrauisch, als sie unter den Menschen an der Schleuse einen Mann in einem Mantel sehen – bei Temperaturen von mehr als 30 Grad eine sehr ungewöhnliche Kleidung. Offenbar soll der Mantel einen Sprengstoffgürtel oder eine Kalaschnikow verstecken.
Als die Beamten den Mann und seine Begleiter stellen, eröffnen sie das Feuer, kurz darauf sprengt sich ein Täter in die Luft. Für die Menschen, die am Röntgengerät der Sicherheitsschleuse warten, gibt es kein Entrinnen. Ein zweiter Attentäter läuft durch das Chaos, um in die Ankunftshalle zu gelangen, geht nach einem Schuss der Polizei zu Boden und zündet ebenfalls eine Bombe. Ein weiterer Angreifer eröffnet vor der Ankunftshalle das Feuer auf Wartende an einem Taxistand. Mindestens 44 Menschen sterben. Über 200 Menschen werden verletzt, darunter nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Berlin auch eine Deutsche.
Die Wucht der Explosionen reißt Teile der Deckenverkleidung des Terminals ab, Menschen rennen schreiend um ihr Leben. Die Behörden sperren die Zufahrtsstraßen und schicken Dutzende Rettungswagen zum Tatort, während schwer bewaffnete Polizisten nach möglichen weiteren Angreifern suchen. Die Bilder gleichen denen vom Anschlag in Brüssel vom März, der auf das Konto von IS-Schergen ging.
Eine türkische IS-Zelle mit Hilfe einiger Täter aus Zentralasien habe den Istanbuler Airport angegriffen, sagt Terrorexperte Metin Gürcan. Nach seinen Informationen waren sieben Männer am Anschlag beteiligt. Drei seien tot, einer sei festgenommen, drei seien noch auf der Flucht. Auch „Hürriyet“meldet sieben Täter. Die Behörden schweigen dazu.
Wie in Brüssel wird auch in Istanbul der Flugbetrieb erst mal eingestellt, doch nur wenige Stunden später starten und landen die ersten Maschinen wieder, wie der nach Istanbul geeilte Ministerpräsident Binali Yildirim noch in der Nacht mitteilt: Die Türkei will zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lässt. Yildirim lässt die geschockte Nation auch wissen, dass es keine Sicherheitsmängel am Flughafen gegeben habe. Laut Medienberichten ergab die Auswertung von Sicherheitskameras jedoch, dass die Täter den Anschlagsort am Morgen inspiziert hatten und am Abend mit einem Taxi für das Blutbad zurückkehrten. Obwohl alle Fahrzeuge am Istanbuler Airport eine Polizeikontrolle passieren müssen, bevor sie an die Terminals gelangen können, bleiben die Waffen des Terrorteams unentdeckt.
Der Anschlag vom Dienstag war die dritte Bluttat des IS in Istanbul in diesem Jahr. Im Januar tötete ein Extremist in der Altstadt zwölf deutsche Touristen, im März sprengte sich ein IS-Anhänger auf der Einkaufsstraße Istiklal Caddesi in die Luft und tötete drei Israelis und einen Iraner. Auch der jüngste Angriff galt Ausländern: Der Ankunftsbereich des Inlands-Terminals blieb unbehelligt.
Regierungsgegner werfen der Führung um Präsident Recep Tayyip Erdogan angesichts der permanenten Bedrohung durch den IS vor, nicht entschlossen genug zu handeln. So seien Terrorexperten der Polizei im Zuge der Säuberungswellen bei den Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren versetzt oder gefeuert worden, weil sie Anhänger von Erdogans Widersacher Fethullah Gülen sind. Ein Rezept gegen die Gefahr besitzt Ankara auch deshalb nicht. Und so breitet sich ein Gefühl der Verunsicherung im Land aus. Ein Land, in dem nicht nur der IS mordet, sondern auch Anhänger der Terrorgruppe PKK. Fast 300 Menschen sind laut Berechnungen in der Türkei binnen eines Jahres bei Terroranschlägen ums Leben gekommen.
Die Türkei braucht Hilfe. Allerdings steht sie nach Jahren des überaus selbstbewussten Auftretens als selbst ernannte Führungsmacht im Nahen Osten isoliert da. Schon vor dem jüngsten Anschlag hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass Erdogan dem gegensteuern will. Am Wochenende besiegelte er eine Wiederannäherung an Israel und bemühte sich um ein Ende der Krise mit Russland. Zugleich wurde in den vergangenen Tagen der Ruf nach einer Neuausrichtung der türkischen Syrien-Politik laut, die bisher kompromisslos auf einen Sturz von Präsident Baschar al-Assad ausgerichtet ist und im Dienste dieses Zieles den Erfolg diverser – auch islamistischer – Rebellengruppen in Syrien anstrebt. Ob der Anschlag vom Dienstag eine solche Wende beschleunigen kann, blieb aber zunächst unklar.