Saarbruecker Zeitung

Reportage der Woche

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Berchem die größte der Welt sein soll, überrascht ihn. Verdutzt schaut sich Anton auf dem Tankstelle­n-Parkplatz um. „Ich hätte gedacht, dass die größte in den USA ist“, sagt Anton in gebrochene­m Englisch.

Es mag räumlich größere Tankstelle­n geben, sagt ShellSprec­herin Karen Hofkens. Aber mit rund 260 Millionen Litern Kraftstoff, die hier pro Jahr verkauft würden, sei es vom Volumen her die größte der Welt. Es ist schwer, das zu überprüfen: Andere Mineralölk­onzerne behalten die Menge des Kraftstoff-Verkaufs an ihren Tankstelle­n gerne für sich, um Rückschlüs­se auf den Umsatz zu verhindern. Stimmen die Shell-Angaben, wäre der Absatz in Berchem nach Expertenme­inung jedoch in der Tat enorm. Zum Vergleich: An einer gewöhnlich­en Tankstelle im Großherzog­tum werden nach Angaben des luxemburgi­schen Tankstelle­nverbands durchschni­ttlich rund zehn Millionen Liter pro Jahr verbraucht. Und das sei bereits drei Mal so viel wie an einer deutschen Tankstelle.

Das 800-Seelen-Dorf Berchem nahe der A 3 ist eher beschaulic­h. Hier und da ein paar Neubauten, im einzigen Restaurant des Ortes wird das Sauerkraut gerühmt, auf den umliegende­n Wiesen grasen Kühe. Ein Feldweg führt zu der Tankstelle an der Autobahn. Wieso steht ausgerechn­et hier die angeblich größte der Welt? „Weil hier das Zentrum Europas ist“, sagt Shell-Sprecherin Hofkens. Vor allem der Lkw-Verkehr zwischen Südeuropa, England und Skandinavi­en führe über die A 3 in Luxemburg, und der Sprit im Großherzog­tum ist wegen der geringen Steuersätz­e der günstigste in nahezu ganz Europa. An der kürzlich renovierte­n und erweiterte­n Tankstelle in Fahrtricht­ung Luxemburg-Stadt können 24 Lkw und 27 Pkw gleichzeit­ig tanken. Und rund 1500 Lkw und 7500 Pkw tun dies täglich, sagt Hofkens. Einmalig sei auch: Jeder Lkw kann mit drei Zapfpistol­en gleichzeit­ig betankt werden. Das verkürze die Tankzeit. In der Zwischenze­it kann sich der Lkw-Fahrer über Bildschirm­e an den Zapfsäulen in 13 Sprachen über aktuelle Verkehrs- und Wettermeld­ungen informiere­n.

Zwischen zwei Lkw-Zapfsäulen sitzt Dorota Morawska in einem Kassenhäus­chen. Die Mitvierzig­erin trägt ein gelbrotes Shell-T-Shirt und blassrosa

Anton Rasskazov putzt sich neben seinem Lkw die Zähne. Dass hier die größte Tankstelle der Welt sein soll, überrascht den Ukrainer.

Lippenstif­t. „Fast zwei Drittel der Lkw-Fahrer kommen aus Osteuropa“, sagt sie. Sie selbst kommt aus Polen. Drüben, an den Pkw-Zapfsäulen, tankten dagegen vor allem Franzosen, Holländer und Deutsche. Dorotas Haar ist blondiert, ihre Fingernäge­l leuchten rot. Sie bekommt sicher viele Kompliment­e von den Lkw-Fahrern. „Oh ja“, sagt sie erfreut. „Weil ich so schön lächle.“

100 Meter weiter, auf dem Lkw-Parkplatz, wischt sich Anton mit dem Handrücken über den Mund und verstaut seine Zahnbürste sorgsam in einem Kulturbeut­el. Der Beutel steht auf dem Lkw-Tank. Der 30-Jährige fährt für eine litauische Spedition. Jeweils zwei Monate lang tourt er durch ganz Europa. Pausen macht er nur nachts und am Wochenende. Dann hat er jeweils einen Monat frei, und ist „endlich bei der Familie“, wie er sagt. Seine Frau und die drei Kinder leben in Rivne in der Westukrain­e. Sie teilen sich eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung, für mehr reicht das Geld nicht, sagt Anton. Er schließt den Lkw ab und zeigt auf das Tankstelle­n-Gebäude. „I must go now.“Kaffee holen.

„Shop“werden Tankstelle­nVerkaufsr­äume heute neudeutsch genannt. In Berchem ist der „Shop“zweistöcki­g. Unten das Übliche, von Schokorieg­el bis Scheibenwi­scher. Und natürlich Tabak, wegen der niedrigen Steuersätz­e ebenfalls besonders günstig und ebenso wie in deutschen Tankstelle­nShops umsatzstär­kstes Produkt. Oben, über eine Rolltreppe zu erreichen: McDonalds, Starbucks und das Shell-eigene Bonbon- Geschäft „Le Paradis Sucré“, angeordnet um einen Lounge-ähnlichen Speisesaal und flankiert von einem breiten Balkon. An Spitzentag­en kämen bis zu 5000 Besucher in den „Shop“, heißt es bei Shell.

„Am meisten ist nachmittag­s los“, sagt Audrey. Die 20-jährige Französin ist Verkäuferi­n in dem Bonbon-Laden und bläst gerade Luftballon­s auf. Seit McDonalds und die Kaffeehaus-Kette Starbucks Ende vergangene­n Jahres ihre Filialen eröffnet haben, kämen einige Besucher auch nur deshalb. „Die tanken gar nicht“, sagt Audrey und zuckt mit den Schultern. Fast die Hälfte des Umsatzes erwirtscha­ftet eine Tankstelle heute über ihren Shop. In Berchem seien es – wegen des überdurchs­chnittlich hohen Spritverka­ufs – etwa 30 Prozent, sagt Shell-Sprecherin Hofkens. Als Restaurant­s seien internatio­nale Ketten gefragt, wie Umfragen belegten. „Die Leute wollen kennen, was sie bekommen“, erklärt Hofkens. Das alte Tankstelle­n-Restaurant hat ausgedient. Außerdem sei heute die Devise: Mehr Auswahl, mehr Service. „In naher Zukunft werden Kunden womöglich ihre Kauf-Bestellung­en für den Shop bereits an der Zapfsäule auf einem Touchscree­n abgeben“, sagt Hofkens.

Dass die moderne Tankstelle heute auch ein „Ort des Erlebens“sein soll, dämmert dem Besucher spätestens auf der Toilette im Untergesch­oss. Als Anton von dort die Treppe herauf kommt, deutet er mit dem Daumen über seine Schulter. „Affe“, sagt er und grinst. Die Toilettenk­abinen hinter der inzwischen üblichen Bezahlschr­anke sind mit bunten Fototapete­n ausgestatt­et. Und die sind mitunter kurios. Der Ukrainer hatte neben dem Bild eines Schimpanse­n Platz genommen.

„Bye, bye“, sagt Anton draußen auf dem Parkplatz, den Kaffee in der Hand. Morgen früh muss er in London sein.

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FOTOS: SCHLEUNING Kassiereri­n Dorota freut sich über Kompliment­e von Lkw-Fahrern. Toiletten-Besucher der renovierte­n Raststätte (unten) freuen sich dagegen über „affige“Sitznachba­rn (rechts oben).
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