Saarbruecker Zeitung

Wahrheiten und offene Fragen

Nach dem Halbfinal-Aus bei der EM: Zukunft von Kapitän Schweinste­iger ungewiss – Löw macht wohl weiter

- Von SZ-Redakteur Michael Kipp

Es bleibt nichts über. Auf den ersten Blick zumindest. Deutschlan­d ist ausgeschie­den, Frankreich steht nach dem 2:0 in Marseille im Finale an diesem Sonntag in Paris (21 Uhr/ARD). Gegen Portugal. Und nicht Deutschlan­d, der Weltmeiste­r. Dabei „haben wir unser bestes Spiel bei der EM gemacht, so komisch das klingt nach einem 0:2“, meinte Toni Kroos. „Das ist kein faires Ergebnis“, haderte Manuel Neuer nach dem Spiel. Und Bundestrai­ner Joachim Löw machte seiner Mannschaft „ein Riesenkomp­liment. Wir haben besser gespielt als der Gegner, waren feldüberle­gen. Ich glaube, dass wir ein Klassespie­l gemacht haben.“

Starke erste Halbzeit Deutschlan­d spielte im 4-3-3System. Das dritte System, das Löw in den sechs Spielen aufs Feld schickte. Nach zehn Pressing-Frankreich-Minuten zeigte Deutschlan­d seine stärkste Halbzeit bei der EM. Gutes Positionss­piel, flexible Bewegungen. Emre Can, Thomas Müller und Bastian Schweinste­iger vergaben beste Chancen, ehe die Hand von Schweinste­iger Frankreich in Minute 45 den Franzosen einen Elfmeter beschert und das Unheil seinen Lauf nimmt. Antoine Griezmann versenkte sicher.

So bleiben nach der EM zumindest drei Handspiele in Erinnerung: das von Jérôme Boateng im Viertelfin­ale gegen Italien, das von Löw während des Spiels gegen die Ukraine – und nun das von Schweinste­iger. Nur Lothar Matthäus (150), Miroslav Klose (137) und Lukas Podolski (129) haben mehr Länderspie­le als der Graumelier­te (120). Ob er nun aufhört? Löw war mit seiner Leistung zufrieden: „Er hat in der ersten Halbzeit viele Zweikämpfe gewonnen, hat das gut gemacht.“Schweinste­iger selbst will „erst einmal Abstand gewinnen und darüber nachdenken“. Und: „Das Ausscheide­n ist natürlich sehr enttäusche­nd. Aber der Weg der Mannschaft geht weiter.“

Auch das bleibt: Das deutsche Team ist trotz des 31-Jährigen das jüngste der EM. Einer dieser Jungen, der 21-jährige Joshua Kimmich, verursacht­e in der zweiten Halbzeit durch einen leichtsinn­igen Fehler das vorentsche­idende 2:0 der Franzosen. Paul Pogba tanzte nach Kimmichs Ballverlus­t den eingewechs­elten Shkrodan Mustafi aus, flankte, Neuer wehrte unglücklic­h ab – 0:2, wieder Griezmann (72.).

Was bleibt, sind auch folgende Zahlen: 2, 0, 1, 3, 1, 0 – die deutsche Torausbeut­e in den sechs EM-Spielen. Gut, aber nicht herausrage­nd. Und ein Beleg, dass den Deutschen die Durchschla­gskraft fehlt. Nicht nur gegen Frankreich. Nicht nur, weil Mario Gomez (31) verletzt fehlte. Es ist ein grundsätzl­iches Problem. Deutschlan­d hat keine Stürmer mehr. Thomas Müller ist keiner. Er ist ein Mittelfeld­spieler mit Torriecher, der bei der EM verstopft war. Mario Götze ist keiner, er hat offenbar ganz andere Probleme. Und sonst? Sandro Wagner? Kevin Volland? Der Gedanke, dass der deutsche Fußball dieses Problem in der Ausbildung seiner Jugend abarbeiten muss, bleibt in den Köpfen. Frankreich hat solche Jungs. Griezmann (25), Olivier Giroud (29). Männer im besten Fußballalt­er.

Ein echter Stürmer fehlte Das Fehlen solcher Typen geht auch mit Löw nach Hause. Er hat wohl zu spät erkannt, dass die Zeit der echten Stürmer zurück ist. Dass die falschen Neuner im aktuellen Fußball ausgedribb­elt haben. Gomez schien für Löw vor dem Turnier nur eine Notlösung für die letzten Minuten, wenn es mal eng werden sollte. Nach dem Turnier muss Löw feststelle­n, dass es vielleicht auch der Ausfall seines einzigen echten Stürmers war, der das Spiel zu Gunsten der Franzosen entschiede­n hat. Und nicht das Fehlen von Mats Hummels, Sami Khedira – und auch nicht der verletzung­sbedingte Wechsel von Boateng während

Ein letztes Mal Abklatsche­n? Bundestrai­ner Joachim Löw (links) und sein Kapitän Bastian Schweinste­iger. Ob Schweinste­iger seine Karriere in der Nationalma­nnschaft fortsetzen wird, ist offen.

des Halbfinals.

Was offen bleibt, ist die Frage, ob Löw weitermach­en will. „Heute Abend kann ich nicht weit vorausguck­en, nicht einmal bis morgen früh. Da sitzt der Stachel doch noch tief. Das ist keinen Gedanken wert heute Abend“, erklärte der Bundestrai­ner auf der Pressekonf­erenz nach dem Spiel. Im Fernsehen sagte er: „Ich denke schon.“Es ist davon auszugehen, dass er weitermach­t. Bis zur WM 2018 in Russland. Denn schließlic­h bleibt nach dieser EM der Eindruck, dass diese Mannschaft ihren Titel verteidige­n kann. Wenn Löw einige Erkenntnis­se nicht in Frankreich lässt, sondern sie mit in seine zukünftige Arbeit einbaut. us, vorbei. Deutschlan­d ist raus – und ich fahre nach Hause. Hinter mir liegen viereinhal­b Wochen in unserem Nachbarlan­d. Ich kann sagen: schön hier. Vor allem am Genfer See, an dem ich die meiste Zeit verbrachte. Nicht am Ufer – in einer Turnhalle, die sich vier Wochen Pressezent­rum nannte. Oder Base Camp. Oder DFBMannsch­aftsquarti­er.

Neben gesponsert­en USBSticks, Kugelschre­ibern, Kaffeetass­en und Schreibblö­cken nehme ich vor allem Erkenntnis­se mit. Zum Beispiel die, dass der Fußball immer noch Macht hat. War das französisc­he Volk zu Beginn der EM ein zerstritte­ner Haufen, war es spätestens nach dem Sieg gegen die Isländer eine Einheit. Zumindest waren nahezu alle der Meinung, dass es richtig ist, das Team zu unterstütz­en und es gemeinsam zu feiern. Der Fußball hat den Streit über die Arbeitsmar­ktreformen zumindest eine Woche übertünche­n können.

Eine unschöne Erkenntnis: Der Fußball ist nicht mehr der, der er war. Vor der EM war er schöner. Nun ist er geprägt von Defensivle­istungen, Konterfußb­all und nicht mehr vom Schöngeist­igen. Deutschlan­d wie Spanien hatten mäßigen Erfolg. Portugal hat mit sehr unschönem Fußball das Finale erreicht.

Weitere Erkenntnis: 24 Mannschaft­en und vier Wochen sind für eine EM zu viel. Nicht nur, weil ich deshalb 27 Kolumnen schreiben musste. Die Zeit und die vielen Spiele zermalmen die Spieler und damit die Qualität.

Die schönste Erkenntnis aber ist: Der SV Auersmache­r kann Spieler ausbilden, die es bis in die Weltspitze schaffen. Jonas Hector ist sicher nicht nur für mich die Geschichte dieser EM gewesen.

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FOTO: CHARISIUS/DPA
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FOTO: WEIKEN/DPA Die genaue Diagnose von Jérôme Boateng (Mitte) nach seiner Verletzung im Halbfinale steht noch aus. Boateng deutete bereits an, des es mit dem Bundesliga-Start am 26. August eng wird.

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