Wahrheiten und offene Fragen
Nach dem Halbfinal-Aus bei der EM: Zukunft von Kapitän Schweinsteiger ungewiss – Löw macht wohl weiter
Es bleibt nichts über. Auf den ersten Blick zumindest. Deutschland ist ausgeschieden, Frankreich steht nach dem 2:0 in Marseille im Finale an diesem Sonntag in Paris (21 Uhr/ARD). Gegen Portugal. Und nicht Deutschland, der Weltmeister. Dabei „haben wir unser bestes Spiel bei der EM gemacht, so komisch das klingt nach einem 0:2“, meinte Toni Kroos. „Das ist kein faires Ergebnis“, haderte Manuel Neuer nach dem Spiel. Und Bundestrainer Joachim Löw machte seiner Mannschaft „ein Riesenkompliment. Wir haben besser gespielt als der Gegner, waren feldüberlegen. Ich glaube, dass wir ein Klassespiel gemacht haben.“
Starke erste Halbzeit Deutschland spielte im 4-3-3System. Das dritte System, das Löw in den sechs Spielen aufs Feld schickte. Nach zehn Pressing-Frankreich-Minuten zeigte Deutschland seine stärkste Halbzeit bei der EM. Gutes Positionsspiel, flexible Bewegungen. Emre Can, Thomas Müller und Bastian Schweinsteiger vergaben beste Chancen, ehe die Hand von Schweinsteiger Frankreich in Minute 45 den Franzosen einen Elfmeter beschert und das Unheil seinen Lauf nimmt. Antoine Griezmann versenkte sicher.
So bleiben nach der EM zumindest drei Handspiele in Erinnerung: das von Jérôme Boateng im Viertelfinale gegen Italien, das von Löw während des Spiels gegen die Ukraine – und nun das von Schweinsteiger. Nur Lothar Matthäus (150), Miroslav Klose (137) und Lukas Podolski (129) haben mehr Länderspiele als der Graumelierte (120). Ob er nun aufhört? Löw war mit seiner Leistung zufrieden: „Er hat in der ersten Halbzeit viele Zweikämpfe gewonnen, hat das gut gemacht.“Schweinsteiger selbst will „erst einmal Abstand gewinnen und darüber nachdenken“. Und: „Das Ausscheiden ist natürlich sehr enttäuschend. Aber der Weg der Mannschaft geht weiter.“
Auch das bleibt: Das deutsche Team ist trotz des 31-Jährigen das jüngste der EM. Einer dieser Jungen, der 21-jährige Joshua Kimmich, verursachte in der zweiten Halbzeit durch einen leichtsinnigen Fehler das vorentscheidende 2:0 der Franzosen. Paul Pogba tanzte nach Kimmichs Ballverlust den eingewechselten Shkrodan Mustafi aus, flankte, Neuer wehrte unglücklich ab – 0:2, wieder Griezmann (72.).
Was bleibt, sind auch folgende Zahlen: 2, 0, 1, 3, 1, 0 – die deutsche Torausbeute in den sechs EM-Spielen. Gut, aber nicht herausragend. Und ein Beleg, dass den Deutschen die Durchschlagskraft fehlt. Nicht nur gegen Frankreich. Nicht nur, weil Mario Gomez (31) verletzt fehlte. Es ist ein grundsätzliches Problem. Deutschland hat keine Stürmer mehr. Thomas Müller ist keiner. Er ist ein Mittelfeldspieler mit Torriecher, der bei der EM verstopft war. Mario Götze ist keiner, er hat offenbar ganz andere Probleme. Und sonst? Sandro Wagner? Kevin Volland? Der Gedanke, dass der deutsche Fußball dieses Problem in der Ausbildung seiner Jugend abarbeiten muss, bleibt in den Köpfen. Frankreich hat solche Jungs. Griezmann (25), Olivier Giroud (29). Männer im besten Fußballalter.
Ein echter Stürmer fehlte Das Fehlen solcher Typen geht auch mit Löw nach Hause. Er hat wohl zu spät erkannt, dass die Zeit der echten Stürmer zurück ist. Dass die falschen Neuner im aktuellen Fußball ausgedribbelt haben. Gomez schien für Löw vor dem Turnier nur eine Notlösung für die letzten Minuten, wenn es mal eng werden sollte. Nach dem Turnier muss Löw feststellen, dass es vielleicht auch der Ausfall seines einzigen echten Stürmers war, der das Spiel zu Gunsten der Franzosen entschieden hat. Und nicht das Fehlen von Mats Hummels, Sami Khedira – und auch nicht der verletzungsbedingte Wechsel von Boateng während
Ein letztes Mal Abklatschen? Bundestrainer Joachim Löw (links) und sein Kapitän Bastian Schweinsteiger. Ob Schweinsteiger seine Karriere in der Nationalmannschaft fortsetzen wird, ist offen.
des Halbfinals.
Was offen bleibt, ist die Frage, ob Löw weitermachen will. „Heute Abend kann ich nicht weit vorausgucken, nicht einmal bis morgen früh. Da sitzt der Stachel doch noch tief. Das ist keinen Gedanken wert heute Abend“, erklärte der Bundestrainer auf der Pressekonferenz nach dem Spiel. Im Fernsehen sagte er: „Ich denke schon.“Es ist davon auszugehen, dass er weitermacht. Bis zur WM 2018 in Russland. Denn schließlich bleibt nach dieser EM der Eindruck, dass diese Mannschaft ihren Titel verteidigen kann. Wenn Löw einige Erkenntnisse nicht in Frankreich lässt, sondern sie mit in seine zukünftige Arbeit einbaut. us, vorbei. Deutschland ist raus – und ich fahre nach Hause. Hinter mir liegen viereinhalb Wochen in unserem Nachbarland. Ich kann sagen: schön hier. Vor allem am Genfer See, an dem ich die meiste Zeit verbrachte. Nicht am Ufer – in einer Turnhalle, die sich vier Wochen Pressezentrum nannte. Oder Base Camp. Oder DFBMannschaftsquartier.
Neben gesponserten USBSticks, Kugelschreibern, Kaffeetassen und Schreibblöcken nehme ich vor allem Erkenntnisse mit. Zum Beispiel die, dass der Fußball immer noch Macht hat. War das französische Volk zu Beginn der EM ein zerstrittener Haufen, war es spätestens nach dem Sieg gegen die Isländer eine Einheit. Zumindest waren nahezu alle der Meinung, dass es richtig ist, das Team zu unterstützen und es gemeinsam zu feiern. Der Fußball hat den Streit über die Arbeitsmarktreformen zumindest eine Woche übertünchen können.
Eine unschöne Erkenntnis: Der Fußball ist nicht mehr der, der er war. Vor der EM war er schöner. Nun ist er geprägt von Defensivleistungen, Konterfußball und nicht mehr vom Schöngeistigen. Deutschland wie Spanien hatten mäßigen Erfolg. Portugal hat mit sehr unschönem Fußball das Finale erreicht.
Weitere Erkenntnis: 24 Mannschaften und vier Wochen sind für eine EM zu viel. Nicht nur, weil ich deshalb 27 Kolumnen schreiben musste. Die Zeit und die vielen Spiele zermalmen die Spieler und damit die Qualität.
Die schönste Erkenntnis aber ist: Der SV Auersmacher kann Spieler ausbilden, die es bis in die Weltspitze schaffen. Jonas Hector ist sicher nicht nur für mich die Geschichte dieser EM gewesen.