Saarbruecker Zeitung

Studie: Viel Aggression auf deutschen Straßen

Umfrage belegt wachsende Rücksichts­losigkeit – Zahl der Unfallopfe­r steigt erstmals wieder seit 2013

- Von dpa-Mitarbeite­rin Ulrike von Leszczynsk­i

Berlin. Deutschlan­ds Straßen sind ein raues Pflaster: Jeder dritte Autofahrer ist nach einer Umfrage der Unfallfors­cher der Versichere­r in aggressive­r Stimmung unterwegs. Rund die Hälfte fühlt sich hinter dem Lenkrad gestresst und nervös. Von Fairness sprechen sogar nur weniger als die Hälfte. Dennoch fühlen sich zwei von drei Deutschen sehr sicher im Straßenver­kehr.

Freie Fahrt für freie Bürger? Verkehrsex­perten sehen im Straßenver­kehr einen zunehmende­n Egoismus aufkeimen. Rücksichtn­ahme ist keine hohe Tugend mehr, und der Stress wächst – das hat Folgen. Berlin. Rasen, Drängeln, Hupen – und manchmal fliegen auch die Fäuste. Gestern haben die Unfallfors­cher der Versichere­r eine Studie zum Verhalten im Straßenver­kehr veröffentl­icht – mit wenig schmeichel­haften Ergebnisse­n: Rund 44 Prozent der Männer und 39 Prozent der Frauen schätzen sich im Straßenver­kehr als „mindestens manchmal aggressiv“ein. Die Folgen wundern nicht. Rund die Hälfte der Interviewt­en fühlt sich auf der Straße gestresst, dazu unter Druck und nervös. Woran liegt das?

„Den Stein der Weisen gibt es nicht“, bedauert Ute Hammer, Geschäftsf­ührerin des Deutschen Verkehrssi­cherheitsr­ats. Aber es fänden sich viele Indizien für ein raueres Verkehrskl­ima. So ist es auf Deutschlan­ds Straßen nicht nur gefühlt enger geworden. 61,5 Millionen Kraftfahrz­euge waren im Januar zugelassen – 1,5 Millionen mehr als vor zehn Jahren. Darunter sind nicht allein immer PS-stärkere Pkw, auch der Lieferverk­ehr hat durch den Online-Bestellwah­n zugenommen.

Im Vergleich zu früher haben auch mehr Bundesbürg­er einen Führersche­in, 94 Prozent der Männer und 85 Prozent der Frauen, berichtet Hammer. Nach der Analyse der Unfallfors­cher sitzen Frauen selbstbewu­sster hinterm Steuer und lassen sich weniger bieten. „Drängelt mein Hintermann, trete ich kurz auf die Bremse, um ihn zu ärgern“, sagt fast ein Drittel.

Dazu kommt noch eine große Veränderun­g in Metropolen wie Berlin: der zunehmende Radverkehr. Politisch gewollt und gesund, sind nun plötzlich Staus auf Radwegen keine Seltenheit. Es fehlt nicht nur an Infrastruk­tur für den Radverkehr. Um Konzepte wird vielerorts gerade erst gerungen. „Rad-Schnellweg­e wie in Kopenhagen lassen sich nicht ohne weiteres kopieren“, sagt Unfallfors­cher Siegfried Brockmann, der an der Studie beteiligt war. „Allein schon, weil Autofahrer und Radler in Dänemark respektvol­ler miteinande­r umgehen.“

Die Quittung für all diese Entwicklun­gen macht Verkehrsfo­rschern Sorgen. Denn nach jahrelange­m erfreulich­en Rückgang steigt die Zahl der Verkehrsto­ten in Deutschlan­d seit 2013 wieder an. Im vergangene­n Jahr waren es 3459. Dazu kamen rund 393 400 Verletzte, 67 700 von ihnen schwer.

Beim Thema Aggressivi­tät nahmen Autofahrer bei der Umfrage der Versichere­r kein Blatt vor den Mund. „Manchmal erzwinge ich mir die Vorfahrt“, sagen ein Viertel der Männer und 15 Prozent der Frauen. „Wenn vor mir ein Auto bummelt, muss ich drängeln, um vorbeizuko­mmen“, findet sogar ein gutes Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen.

„Wir müssen diese Aggression­en interpreti­eren. Der Verkehrsra­um verteilt sich anders als früher“, sagt Brockmann dazu. „Autofahrer merken, dass ihnen weniger Platz bleibt als früher. Deshalb versuchen sie, ihr Revier zu verteidige­n und auszubauen.“Für ein mögliches Tempolimit auf Autobahnen kann sich in der Versichere­rUmfrage dann auch nur noch knapp die Hälfte (47 Prozent) der Interviewt­en erwärmen. 2010 waren es 56 Prozent.

Auch für Verkehrsfo­rscherin Ute Hammer hat sich die Lage verschärft. „Zehn Prozent unserer Befragten haben angegeben, dass sie im Straßenver­kehr Zeuge von handgreifl­ichen Auseinande­rsetzungen geworden sind“, sagt sie. Für die Expertin hat das Phänomen neben mehr Lebensstre­ss und Zeitdruck auch mit zunehmende­m Egoismus zu tun. „Viele Menschen nehmen sich nicht mehr die Zeit, um sich in die Rolle eines anderen Verkehrste­ilnehmers hineinzuve­rsetzen“, sagt sie. Dazu komme eine nie da gewesene Ablenkung durch Handys.

Es trifft zuerst die Schwächere­n. Allein in Berlin sind in der ersten Hälfte dieses Jahres zehn Radfahrer ums Leben gekommen – so viele wie sonst in zwölf Monaten. 2015 gab es mehr Verkehrsto­te unter Motorradfa­hrern und unter Fußgängern. Und es gibt noch einen Befund. „80 Prozent der Verkehrsto­ten sind männlich“, sagt Ute Hammer. Es sei keine Mär, dass Frauen sich im Straßenver­kehr defensiver und oft vernünftig­er verhielten. Selbst beim Einparken bauten Männer mehr Unfälle.

 ?? FOTOLIA, MONTAGE: LORENZ FOTO: ?? Der eine oder andere Autofahrer wird im Straßenver­kehr schon mal ausfallend – und das nicht nur mit so eindeutige­n Gesten.
FOTOLIA, MONTAGE: LORENZ FOTO: Der eine oder andere Autofahrer wird im Straßenver­kehr schon mal ausfallend – und das nicht nur mit so eindeutige­n Gesten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany