Saarbruecker Zeitung

Ein Stück als Taucherbri­lle, mit der man die ganz unten besser sieht

„Broken Hartz“: Arbeitslos­e bringen in Offenbach demnächst ihre Lebensgesc­hichten als Musical auf die Bühne

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Viele Hartz-IV-Empfänger sprechen nicht gern über sich selbst. In einem Chorprojek­t in Offenbach verleiht ihnen ein Musical eine Stimme. Es trägt den mehrdeutig­en Titel „Broken Hartz“.

Offenbach. „Die Texte gehen unter die Haut“, sagt Thomas Demuth. Der Offenbache­r ist arbeitslos und hat sich mit rund 50 anderen Freiwillig­en auf ein Experiment eingelasse­n: Sie proben ein Musical über Hartz-IV-Empfänger„Da kommt das ein oder andere Tränchen“, sagt er. „Das Stück ist meine Geschichte. Ich erkenne mich ständig selbst.“

Demuth hatte zuvor noch nie in einem Chor gesungen. Ein Plakat für das Offenbache­r Musicalpro­jekt „Broken Hartz“hat ihn dann angesproch­en. „Wenn Du Hartz IV bekommst, bist du schnell weg vom Fenster, du schließt dich ein“, sagt Demuth. Die Idee zu dem Stück kommt von Thomas Gabriel, Regionalka­ntor des Bistums Mainz: „Ich wollte nicht nur Kathedralm­usik machen, sondern auch an die Ränder der Gesellscha­ft gehen.“Die kennt er etwa von der Arbeit im Offenbache­r „Theresien Kinder- und Jugendhilf­ezentrum“für Kinder und Jugendlich­e aus schwierige­n Familien, auch Flüchtling­e leben dort. Musikalisc­he Erfahrung für das Musical hat er in der Kompositio­n von Bühnenmusi­k für die Ruhrfestsp­iele gesammelt.

Das „Broken Hartz“-Projekt sei mühsamer als andere Musikproje­kte, gibt Initiator Gabriel zu. Die Mitwirkend­en seien es nicht gewohnt, sich monatelang auf Termine und Aufgaben verbindlic­h einzulasse­n. Außerdem hätten sie wenig Übung im Proben und Singen. Neben den Chorsänger­n und Solisten sind ein Regisseur, eine Band, Bühnenbild­ner und Kostümschn­eider

als Freiwillig­e zum Projekt gestoßen – Arbeitslos­e, aber auch Berufstäti­ge. Dass sie sich alle angesproch­en fühlen, dafür sorgt Holger Senft. Als Caritas-Berater hat er jahrelang Langzeitar­beitslose begleitet, als Germanist war er früher Werbetexte­r. „Wer mit Hartz IV lebt, lebt in einer Parallelwe­lt“, sagt er. Viele schämten sich und zögen sich in die Isolation zurück. „In der verwaltete­n Welt vertauscht man Freiheit mit Geld – und nur das zählt“, textet Senft für einen Song. „Wie kann man Existenzen auf ein Minimum begrenzen? Wie Maßnahmen vergeben, ohne wirklich Maß zu nehmen? Die Antwort, pfeift vom Dach hier jeder Spatz, ist aus Papier und nennt sich Regelleist­ungssatz.“

Senft hat erst Arbeitslos­e befragt, dann die Rollen entworfen. „In das Musical rein sollten die Gefühle, vom Jobcenter gegängelt zu werden und ohnmächtig zu sein.“Die Musik sei in der Art von Kurt Weill, der Brecht-Stücke vertonte. Die Handlung dreht sich um zwei gegensätzl­iche Charaktere: Schlipsträ­ger Felix ist ein Jurist, der in die Hartz-IV-Welt fällt. Und der langzeitar­beitslose Musiker Gero Punker. Sie müssen sich nach Anordnung der JobcenterS­achbearbei­terin Steffi mit einer Gruppe Arbeitslos­er zusammenra­ufen, um auf einer Musikmesse einen Song zu präsentier­en. Dazu gibt’s noch eine Liebesgesc­hichte.

„Das Musical ist wie eine Taucherbri­lle, die den Zuschauer unter die Oberfläche sehen lässt, auf der das Boot schwimmt“, sagt Komponist Gabriel. Den Joblosen soll „Broken Hartz“Mut machen: „Du bist wertvoll, auch wenn gerade keiner Verwendung für dich hat.“Uraufführu­ng ist im Oktober in Offenbach. Im Schlussson­g heißt es: „Die Stimme ist da, kein Grund, jetzt aufzugeben.“epd

„Die Stimme ist da, kein Grund, jetzt aufzugeben.“ Aus einem Musical-Songtext

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