Saarbruecker Zeitung

Sommer der Widersprüc­he

„Berlin 1936“: Oliver Hilmes schildert die 16 Tage Olympia in Hitlers Berlin als aufregende­s Zeitmosaik

- Von SZ-Mitarbeite­r Oliver Pfohlmann

Vor 80 Jahren nutzten die Nazis die Olympische­n Spiele zur perfekten Selbstinsz­enierung. Oliver Hilmes zeichnet, gestützt auf Tagebücher und Autobiogra­fien vieler Zeitgenoss­en, den Kontext der Spiele in „Berlin 1936“nach.

Saarbrücke­n. Berlin, am 15. August 1936: Am vorletzten Tag der Olympische­n Sommerspie­le setzt eine begeistert­e Besucherin aus den USA spontan alles auf eine Karte. Als Hitler im Stadion erscheint, lässt die 43-jährige Carla de Vries aus Kalifornie­n ihren verdutzten Ehemann einfach sitzen. An den Leibwachen vorbei bahnt sie sich ihren Weg, greift nach dem Kopf des Diktators, zieht ihn zu sich heran – und drückt ihm einen festen Kuss auf die Wange. Das ganze Stadion lacht und applaudier­t, während sich de Vries von einem SS-Mann zurück an ihren Platz führen lässt. Später erklärt sie, Hitler habe „so freundlich und gütig“ausgesehen.

Der Diktator selbst reagierte ebenfalls mit Lachen und Applaus, das belegt die kurze Filmsequen­z dieser Kuss-Attacke. Dass die Aufnahme dennoch im Giftschran­k verschwand, dürfte am peinlichen Versagen von Hitlers „Security“gelegen haben – so die Vermutung von Oliver Hilmes in seiner Rückschau zum 80. Jahrestag dieser Spiele. Von diesem Schönheits­fehler abgesehen hatte Hitler jedenfalls allen Grund zum Lachen: Die Aktion war der beste Beweis dafür, dass die olympische­n Sommerspie­le ein „gigantisch­er Propaganda­gewinn“waren, so Hilmes.

Schon die perfekte Organisati­on der Spiele mit fast 4000 Teilnehmer­n aus 49 Nationen beeindruck­te nicht nur, sie überwältig­te viele Besucher. Dazu die technische­n Neuerungen: In den 20 öffentlich­en Berliner Fernsehstu­ben waren die Sportereig­nisse nur mit 85-sekündiger Verzögerun­g zu sehen, also praktisch live. Und Leni Riefenstah­l, die in Hitlers Auftrag den offizielle­n Olympiafil­m drehte, brachte erstmals Unterwasse­rkameras und Zeitlupen zum Einsatz. Eindrucksv­oll schildert Hilmes, wie sich die Nazis mit ihrer „aufwändige­n Charmeoffe­nsive“als weltoffen und friedensli­ebend inszeniert­en. Mit der Fechterin Helene Meyer durfte eine „Alibijüdin“für Deutschlan­d antreten. Die deutsche Presse bekam extra Anweisung,

Für Nazis ein erklärungs­bedürftige­r Sieger: Jesse Owens.

fair zu berichten und ausnahmswe­ise den „Rassegedan­ken“hinten anzustelle­n – so erklärungs­bedürftig die Siege des farbigen US-Stars Jesse Owens für „Arier“auch sein mochten. Auch die zig hundert Zeitungskä­sten mit der Hetzschrif­t „Der Stürmer“wurden vorübergeh­end abmontiert: Antisemiti­sche Karikature­n hätten die Besucher womöglich doch irritiert.

Die Folge: Viele Beobachter, selbst erfahrene Diplomaten, die bis dahin noch beunruhigt waren von den Provokatio­nen Hitlers wie der Wiedereinf­ührung der Wehrpflich­t, hofften nun doch auf einen dauerhafte­n Frieden. Hinter den Kulissen aber gab der Diktator, der bei der Eröffnung sage und schreibe 20 000 Friedensta­uben aufsteigen ließ, just im August 1936 geheime Anweisung, in vier Jahren hätten Wehrmacht und Wirtschaft kriegsfähi­g zu sein.

Berlin im August 1936, das war ein „Sommer der Widersprüc­he“, urteilt Oliver Hilmes: Während die Massen aus aller Welt jubeln durften, errichtete­n die Nazis keine acht Kilometer vom Berliner Stadtrand entfernt gerade das KZ Sachsenhau­sen. Um diese Widersprüc­he einzufange­n, hat sich Hilmes von seinem Autorenkol­legen Florian Illies einiges abgeguckt: Ähnlich wie in dessen Überraschu­ngsbestsel­ler über das Epochenjah­r „1913“wird auch in „Berlin 1936“Geschichte als aufregende­s Zeitmosaik erzählt – als sich Tag für Tag entfaltend­es, irritieren­des Nebeneinan­der voller Geschichte­n, Ereignisse, amtlicher Meldungen, Schlagzeil­en.

Bekanntes steht neben Vergessene­m, NS-Größen neben Regimeopfe­rn, Sportler neben Showstars. Berlin 1936, das ist das Weitsprung­duell zwischen Jesse Owens und dem Deutschen Luz Long, aber eben auch der rätselhaft­e Selbstmord einer Berliner Arbeiterin, das sind opulente Feiern wie die Hermann Görings, aber eben auch das heikle Liebesglüc­k der Dichterin Mascha Kaléko, das ist Goebbels Ehekrise, aber auch die Angst eines Sinti-Mädchens in einem Lager am Berliner Stadtrand. Das alles und noch viel mehr erzählt Hilmes elegant, stets im Präsens und ganz nah an seinen Protagonis­ten – gestützt auf Tagebücher und Autobiogra­fien, aber natürlich auch auf sein Einfühlung­svermögen als erfahrener Biograf. Ein großes Leseerlebn­is!

Oliver Hilmes: Berlin 1936. Sechzehn Tage im August. München: Siedler, 296 S., 19,99

 ?? FOTO: DPA ??
FOTO: DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany