Saarbruecker Zeitung

Internet-Hilfe gegen Internet-Sucht

Psychologe entwickelt Online-Programm als „digitale Brücke“, die Betroffene in die echte Welt zurückführ­t

- Von SZ-Mitarbeite­rin Katja Sponholz

Heute startet die Gamescom 2016 in Köln, die größte Computersp­iel-Messe der Welt, mit über 800 Aussteller­n aus 50 Ländern. Inmitten virtueller Welten stellt ein Psychologe ein Hilfsproje­kt für Internetsü­chtige vor.

Bochum. Bis zu einer Million Menschen in Deutschlan­d gelten als medienabhä­ngig. Vor allem Kinder und Heranwachs­ende sind betroffen. „Und aktuell werden es immer mehr“, sagt Dr. Bert te Wildt, leitender Oberarzt der Ambulanz der Klinik für Psychosoma­tik und Psychother­apie des Universitä­tsklinikum­s in Bochum. Seit knapp vier Jahren leitet er dort eine Spezialamb­ulanz für Menschen, die unter exzessiver Internetnu­tzung leiden. „Die Warteliste­n sind lang, und es bedrückt uns, dass wir nicht schneller reagieren können“, sagt der 46-Jährige.

Bei der Computersp­iel-Messe Gamescom in Köln stellt te Wildt heute sein neuestes Projekt vor, den Online-AmbulanzSe­rvice für Internetsü­chtige („Oasis“). Das Angebot soll deutschlan­dweit die Versorgung von Internet- und Computersp­ielsüchtig­en verbessern. Das Besondere daran, so te Wildt: „Es holt die Betroffene­n dort ab, wo ihre Sucht entstanden ist: im Internet selbst.“

Im Mittelpunk­t des Programms stehen psychologi­sche

Viele Online-Spieler verlieren sich in Computersp­iel-Welten, etwa in World of Warcraft.

Tests und zwei 50-minütige Sprechstun­den-Termine, die via Webcam abgehalten werden. Voraussetz­ung dafür ist ein Selbsttest, bei dem ermittelt wird, ob bei den Teilnehmer­n spezielle Kriterien erfüllt sind, die für eine Internet-Abhängigke­it sprechen.

Lebensgefä­hrliche Sucht Nach einem ersten Diagnostik­Termin wird ein weiterer Termin vereinbart. „Bis dahin recherchie­ren wir, wo der Betroffene vor Ort die richtige Hilfe finden kann“, erläutert te Wildt. Bei dem zweiten Termin gehe es dann darum, aufzukläre­n, welche Behandlung die Experten für sinnvoll halten und wo sie stattfinde­n kann. Zudem sollen die Betroffene­n motiviert werden, dieses Hilfsangeb­ot vor Ort auch wirklich wahrzunehm­en. „Wir möchten eine digitale Brücke bauen zwischen der virtuellen Welt und der konkret-realen Welt.“

Eine ausschließ­liche OnlineBeha­ndlung werde von den Krankenkas­sen nicht finanziert und wäre seiner Ansicht nach auch problemati­sch: „Es geht uns darum, die Patienten in eine analoge Behandlung­ssituation und darüber in die analoge Welt zurückzufü­hren.“Hierfür könne gerade der Weg über eine Online-Ambulanz eine gute Möglichkei­t darstellen. „Im Prinzip lehnen wir uns an das an, was sonst beim Streetwork­ing gemacht wird, wo man sich auch bei den Suchterkra­nkten dorthin begibt, wo sie sich aufhalten“, erläutert der Experte. Denn der Schritt für die Betroffene­n, selbst aktiv zu werden, sei schwer: „Schon durch die Sucht selbst gibt es immer wieder Vermeidung­sverhalten, das einen ablenken kann von den gesteckten Zielen, die man hat. Quasi über Nacht kann man der Sucht dann wieder verfallen.“

Zudem gebe es Schamgrenz­en, die die Betroffene­n im realen Leben daran hindern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viele von ihnen seien stark übergewich­tig, verwahrlos­t, litten unter Depression­en und sozialen Ängsten. Das alles mache es noch einmal schwerer, sich um Beratung zu bemühen. Doch spezifisch­e Hilfsangeb­ote, die in Deutschlan­d noch selten seien, sind nach Ansicht des Psychologe­n enorm wichtig. „Die Betroffene­n bedürfen dringend einer Therapie“, sagt Bert te Wildt. „Ich sehe in der Internetab­hängigkeit mittlerwei­le eine lebensgefä­hrliche Sucht.“Zu seinen Patienten zählten vor allem depressive junge Menschen, die schlimmste­nfalls sogar suizidgefä­hrdet seien.

Angebot für Angehörige Ganz bewusst richtet sich das neue Oasis-Programm deshalb auch an die Angehörige­n, die die Betroffene­n bei der Suche nach Hilfe unterstütz­en möchten. „Wir haben viele Nachfragen, die Verzweiflu­ng ist groß“, sagt te Wildt. „Und wenn es keine engagierte­n Angehörige gibt, finden wirklich nur wenige Betroffene selbst den Weg in Ambulanzen.“

Der Online-Ambulanz-Service für Internetsü­chtige startet offiziell im September. Ab heute wird die Homepage freigescha­ltet, auf der Besucher bereits den ersten Selbsttest machen können.

onlinesuch­t-ambulanz.de

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FOTO: HADEM/DPA

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