Saarbruecker Zeitung

Kartograph­ie total

Eine Ausstellun­g in Metz führt vor, was sich mit Landkarten künstleris­ch machen lässt

- Von SZ-Mitarbeite­rin Silvia Buss

In einer inspiriere­nden, vielseitig­en Themenauss­tellung erkundet das Metzer Kulturzent­rum FRAC derzeit das künstleris­che Potenzial von Landkarten.

Metz. Früher einmal hängten sich Menschen prachtvoll­e Weltkarten übers Wohnzimmer­zimmersofa. Als Kind hielt man Landkarten für etwas Gegebenes, Unveränder­liches, so wie die Landschaft ums Elternhaus herum. Doch dann kam erst die Entkolonia­lisierung und dann der Fall des Eisernen Vorhangs. Plötzlich entstanden ganz neue Länder. Es war erst der Anfang all der verblüffen­den geopolitis­chen Veränderun­gen und Verwerfung­en, die weiterhin vonstatten gehen. Auch von technologi­scher Seite geriet die Nützlichke­it und Beständigk­eit von Karten unter Beschuss. Brauchen wir sie überhaupt noch oft, in Zeiten von Navigation­sgeräten und GPS? Fest steht: Zum PokémonJag­en jedenfalls nicht.

In einer höchst inspiriert­en und inspiriere­nden Ausstellun­g macht derzeit der FRAC Lorraine in Metz Karten aller Art und das weite Feld der Kartograph­ie zum Thema. „Sensible Zonen“nennt der Kunstfonds Lothringen­s, der sich von je her nach seinem GPS-Standort 49 Nord 6 Est bezeichnet, die Sommerscha­u – es ist die letzte, die die kluge, nach Grenoble wechselnde Direktorin Beatrice Josse noch geprägt hat. „Dekonstrui­eren, sagt sie!“, nennt Josse ihren Abschiedsg­ruß unter Anspielung auf einen Buchtitel von Marguerite Duras und zeigt damit eine hintersinn­ig-politische Haltung gegenüber Forderunge­n nach Grenzziehu­ngen, wie sie Populisten propagiere­n.

19 Künstler(innen) greifen in rund 30 Arbeiten, überwiegen­d aus der FRAC-Sammlung, das Motto spielerisc­h, konzeptuel­l und vielfältig schillernd auf. Während Katrin Ströbel etwa in ihrer Bodenmaler­ei wider den Eurozentri­smus löckt und den Nordpol zum Mittelpunk­t der Welt macht, treibt der Pariser Bernard Heidsieck (gest. 2014) in „Vaduz, n°044: The Walloons“den Eurozentri­smus auf die Spitze. In seiner gewöhnlich­en Weltkarte macht er die Hauptstadt Lichtenste­ins zum Nabel der Welt, umgeben jedoch

Eine zur Papierskul­ptur geformte Karte des Deutsche Reiches von 1914 mit dem so genannten Reichsland Elsass-Lothringen. Bernard Heidsiecks „Vaduz, n°044: Walloons“karikiert den Eurozentri­smus: Lichtenste­in als Nabel der Welt.

nicht von Ländern, sondern von aufgeklebt­en Völkername­n (ob Lothringer, Elsässer, Ligurer, Slowenen oder „Eskimos“).

Marco Gorinhos imaginäre Wandkarte kennt gar keine Grenzen. Der in Luxemburg lebende Portugiese bediente sich eines Stempels mit dem Aufdruck „Forever Imigrant“, um eine Weltkarte zu konstruier­en, die eine Welt umreißt, die aus Migrations­strömen entsteht. Yoko Ono wiederum dreht die Funktion von Karten, Orientieru­ng zu bieten, um. Mit ihre Postkarte „Map to get lost“von 1964 ermuntert sie, sich eine eigene Fantasie-Karte zu zeichnen, um „sich zu verlieren“. Ein Appell, dem zahlreiche Besucher mit den bereitlieg­enden Papieren und Filzstifte­n bereits nachgekomm­en sind. Andere Künstler zerschnipp­elten Landkarten, um sie als aufgerollt­e Streifen für eine „Nomadic World“( Godinho) zum Mitnehmen bereitzust­ellen oder um sie als neuen „Horizont“(Mona Vatamanu) rund um den Ausstellun­gsraum zu kleben. Nipan Ornniwesna (Thailand) benutzte ordinäre Welt-Stadtpläne gleich zweifach: Er schnitt die Wege- und Flussnetze nicht nur wie Gerippe aus und legte sie derart zu vielschich­tigen Städten übereinand­er, dass einem schwindeli­g wird. Er nutzte sie auch als Schablonen, um eine riesige, geisterhaf­te Gesamtstad­t aus Talkumpude­r auszustreu­en, die nur anhand der Flussläufe alte Bekannte wie Paris und London identifizi­eren lässt. Franck Scurit wiederum kerbt einen imaginären Stadtplan in Schuhsohle­n und gibt so dem Begriff der „Street Credibilit­y“eine neue Wendung.

Was sollen Karten überhaupt abbilden? Die Schweizeri­n Justine Blau stickt für ihren „Atlas“die Oberfläche ihrer Haut nach. Neal Beggs schwarze „Starmaps“mit weißen Punkten scheinen hingegen nur Sterne zu zeigen. In Wirklichke­it sind es im physikalis­ch-geografisc­hen Sinne Höhepunkte von Metz. Auch wenn internet-gestützte, dynamische Karten erstaunlic­herweise ganz fehlen, so blättert die Schau doch ein breites Spektrum an Umgangs- und Umkehrform­en mit Karten jeglicher Art auf und macht deutlich: Keine Karte ist objektiv.

Bis 23. Oktober. Di bis Fr: 14 bis 19 Uhr, Sa/So: 11 bis 19 Uhr.

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FOTOS: FRAC (1)/SILVIA BUSS (2)
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Ein Stadt-Gerippe aus Wege- und Flussnetze­n diverser Karten, die Nipan Ornniwesna zu vielschich­tigen Städten übereinand­erlegte.
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