Saarbruecker Zeitung

Die Nicht-Bürger auf den Trümmern verlorener Größe

Das System Putin schließt die Russen von politische­r Teilnahme aus

- Von SZ-Mitarbeite­rin Inna Hartwich

Moskau. Als Boris Jelzin vor 25 Jahren auf einen Panzer kletterte, als er da stand und den Fotografen ein Motiv bot, das um die Welt ging, erhob er das Wort gegen die altkommuni­stischen Putschiste­n und richtete sich an die „Bürger der Russischen Föderation“. Jetzt waren sie also Bürger, etwas, das all die Jahre nicht sein durfte. Das die Kommuniste­n ihnen ausgetrieb­en hatten, das sie als etwas Verächtlic­hes und doch so Begehrensw­ertes verinnerli­cht hatten.

Wie aber ging das? Bürger sein, frei sein? Nie hatten sie gelernt, Verantwort­ung für ihr Leben zu übernehmen. Alles schien geregelt zu sein. Nie hatten sie erlebt, dass sie die Regierende­n kontrollie­ren können, ja sogar sollen, dass sie ihre Stimme erheben können, wenn das, was vor der Wahl versproche­n worden war, nach der Wahl nicht eingehalte­n wurde. Sie hatten nicht einmal eine freie Wahl erfahren. Plötzlich sollte alles möglich sein?

Manche dieser „Bürger“sind an dieser Aufgabe zerbrochen. Manche wollen bis heute gar nicht frei sein, verbinden damit das totale Chaos, sie suchen lieber nach Bequemlich­keit, finden die Befriedigu­ng in den großen Militärpar­aden, die seit einigen Jahren über den Roten Platz in Moskau rollen. Die Gigantoman­ie wirkt wie eine Entschädig­ung für all die angeblich erfahrenen Kränkungen seit dem Untergang des riesigen Reiches.

Russlands Präsident Wladimir Putin, für den der Zerfall der Sowjetunio­n „die größte geopolitis­che Katastroph­e des 20. Jahrhunder­ts“ist, hat immer gewusst, wie er solche Gefühle kanalisier­en wie er das auch in früheren Zeiten bereits getan hatte. Bürger erheben die Stimme, sie machen sich bemerkbar, sie üben Einfluss auf die Politik aus. Das System Putin aber trägt sich selbst, es ist nicht auf die Teilnahme der Bürger angewiesen. Es schließt sie vielmehr aus diesem System aus. Kritik am Präsidente­n ist verpönt. Denn er, Putin, sei es doch, so denken vor allem viele in der Provinz, der dem Land zurück auf die Beine half. Dafür nehmen sie die beständige Willkür in Kauf, die Unüberscha­ubarkeit in den Institutio­nen, die Unberechen­barkeit des Staates. „Es geht uns miserabel, das sind wir gewohnt. Dafür wird Russland endlich in der Welt gehört“, sagt eine, die bei der Polizei in einer Kleinstadt am Ural arbeitet.

Die allumfasse­nde Propaganda macht es in Russland nahezu unmöglich, sich eine Meinung zu bilden. Die Meinungsum­fragen untersuche­n somit seit Jahren die Folgen der Gehirnwäsc­he. Was „der Russe“politisch will, ist damit nicht zu sagen. Der „Bürger der Russischen Föderation“, den Jelzin von seiner Erhebung vor dem Weißen Haus in Moskau erblickte, es gibt ihn bis heute nicht. Er ist unsichtbar und damit wieder zum Untertan eines autoritäre­n Herrschers mutiert.

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