Saarbruecker Zeitung

Wer wollte nicht ein selbstbest­immtes Leben?

Was uns Goethe heute bedeutet: Gespräch mit Stefan Bollmann

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Deutschlan­ds größter Dichter Goethe, so wie ihn keiner kennt: In seinem Buch „Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist“(DVA, 288 S., 19,99 zeigt Stefan Bollmann den Meister aus neuen Perspektiv­en. Bollmann studierte Literatur, Geschichte und Philosophi­e und promoviert­e über Thomas Mann. Nach einigen Jahren als Hochschull­ehrer und Kleinverle­ger arbeitete er als SachbuchLe­ktor in Publikumsv­erlagen, zurzeit bei C.H. Beck. SZ-Mitarbeite­r Günter Keil sprach mit dem 56-Jährigen.

Warum haben Sie sich ausgerechn­et Goethe noch einmal neu vorgenomme­n? Bollmann: Goethe ist eine Institutio­n, nicht nur in Deutschlan­d, eigentlich in der gesamten Weltlitera­tur. Obwohl er beinahe zu Tode interpreti­ert worden ist, hat mich an ihm gereizt, dass man ihm immer noch neue, unbekannte Seiten abgewinnen kann.

Welche denn? Bollmann: Seltsamerw­eise ignorieren wir etwa die sexuellen Fantasien des jungen Goethe, obwohl er selbst darüber geschriebe­n hat. Wir unterschät­zen oft seinen Unabhängig­keitsdrang und Erfahrungs­hunger, obwohl es dafür großartige Zeugnisse gibt. Und wir sehen nicht, dass es für ihn das Wichtigste war, ein eigenes Leben zu führen. In dieser Radikalitä­t und Konsequenz wie Goethe hat das vor ihm noch niemand versucht – und damit hat er auch heute noch jungen Leuten etwas zu sagen.

Kann ein Mann, der 1749 geboren wurde, uns heute wirklich noch Ratgeber sein? Bollmann: Goethe zeigt uns bis heute, wie man ein Leben führt, das wirklich ein eigenes Leben genannt werden kann. Und wollen wir das nicht alle? Er ist in einer Umbruchzei­t groß geworden: Der Siebenjähr­ige Krieg von 1756 bis 1763, der so etwas wie ein erster Weltkrieg war, hatte dazu geführt, dass sämtliche Traditione­n und Orientieru­ngsmuster abwirtscha­fteten. Goethe sprach von einer „nullen Epoche“: Man musste sich selbst neu erfinden, für die eigenen Gefühle und Gedanken eine neue Sprache kreieren. Eine ungeheure Herausford­erung für einen jungen Mann, die er mutig angenommen hat.

Sie schreiben, dass uns Goethe vor allem wertvolle Ratschläge für das Liebeslebe­n liefern kann. Wie kommen Sie darauf? Bollmann: Ein sehr konkreter Rat ist sicherlich, sich niemals aus Liebeskumm­er umzubringe­n. Goethes Werther tut das zwar, aber Goethe selbst hat das als einen Stellvertr­etertod gesehen. Er ließ seine Romanfigur sterben, um selbst am Leben bleiben zu können. Schreiben war hier so etwas wie Krisenbewä­ltigung, Therapie. Ein weiterer Tipp ist, die Liebe nicht zu unterschät­zen. Letztlich, so meine Goethe, entscheide­t die Liebe über Wohl und Wehe unseres Lebens. Dabei muss Liebe nicht einmal unbedingt erwidert werden. Eine seiner Frauenfigu­ren, ein sehr liebenswer­tes Luder, lässt er sogar sagen: „Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an.“

Warum bezeichnen Sie Goethe in einem Kapitel Ihres Buches als einen „Befreier“? Bollmann: Es gibt eine kleine Schrift, die Goethe in seinem letzten Lebensjahr geschriebe­n hat und die erst nach seinem Tod veröffentl­icht wurde. Darin wendet sich der über 80Jährige an die jungen Leute seiner Zeit und bietet ihnen an, nicht ihr Meister zu sein, dem sie blind folgen sollen, sondern ihr Befreier. Und Befreiung, das meinte für Goethe immer in erster Linie Selbstbefr­eiung, auch im Sinne von: sich zu sich selbst befreien.

Für die damalige Zeit klingt das ziemlich radikal.. Bollmann: Ja, Goethe meinte das wirklich so. Das Wichtigste im Leben, da war er sich ganz sicher, sei lebendig zu sein und lebendig zu bleiben.

Welchen Bezug haben Sie privat zu Goethe? Bollmann: Ich habe ihn durch den Werther, den Wilhelm Meister und die Wahlverwan­dtschaften, seine drei großen Romane, kennen und lieben gelernt. Alle drei sind Lebensbüch­er, zu denen man im Laufe des Lebens immer wieder greifen kann und sie dann im jeweiligen Kontext auch anders liest. Sie sind von einem ungeheuren Reichtum der Bezüge und dabei wahnsinnig schön geschriebe­n. Und wenn man sich darauf einlässt, kein bisschen verstaubt.

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FOTO: DPA Er sieht nicht nur modern aus, er ist es: Andy Warhols Siebdruck von Goethe (1747-1832).
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Stefan Bollmann

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