Deutschen fehlt Zeit für Freunde und Familie
Studie: Soziale Kontakte gehen zurück – Fernsehen und Internet prägen Freizeit
Freunde in der Kneipe treffen? Mal zu Oma fahren? Bei vielen Deutschen sind persönliche Kontakte seltener geworden. Das zeigt die repräsentative Umfrage „Freizeit-Monitor“.
Hamburg. Internet und Sport statt Treffen mit Verwandten oder Freunden: Bei der Freizeitgestaltung setzen die Deutschen einer neuen Studie zufolge zunehmend andere Schwerpunkte. Der Anteil derer, die regelmäßig im Internet surfen, Musik hören oder ins Fitnessstudio gehen, sei zwischen 2011 und 2016 deutlich gestiegen, teilte die Stiftung für Zukunftsfragen gestern bei der Vorstellung des „Freizeit-Monitors“mit. Auf der anderen Seite sank demnach der Anteil derjenigen, die sich mindestens einmal pro Woche mit Freunden zu Hause treffen, ihre Enkel besuchen oder mit den Nachbarn plaudern. Viele Deutsche seien „zunehmend Getriebene in ihrer eigenen Freizeit, wollen sie doch alles erleben und nichts verpassen“, sagte der wissenschaftliche Leiter der Stiftung, Ulrich Reinhardt.
Den Angaben zufolge sind persönliche Begegnungen im Fünf-Jahres-Vergleich die großen Verlierer unter den Freizeitaktivitäten. So ist die Zeit für regelmäßige Treffen mit Freunden zu Hause um ein Drittel auf 17 Prozent zurückgegangen. Um ein gutes Viertel sanken auch Unternehmungen mit Freunden. Die Besuche von Enkeln bei ihren Großeltern sind zu rund einem Viertel seltener geworden, das Spielen mit Kindern um ein Fünftel auf 26,7 Prozent. „Wir haben heute weniger Zeit durch mehr Optionen in der Freizeit“, erklärte Reinhardt. „Und wir nehmen uns weniger Zeit für Freunde und die Familie.“Dabei überrasche, dass viele Menschen sich das anders wünschten.
Zu den Gewinnern im FünfJahres-Vergleich zählt der Sport, mehr als ein Drittel der Interviewten ist aktiv, jeder Zehnte schwitzt in einem Fitnessstudio. Zuwächse gibt es auch bei kulturellen Aktivitäten wie Rock- und Popkonzerten, Kino und Volksfesten. Verlierer mit einem deutlichen Minus von 32 Prozent sind dagegen Theater, Ballett und Oper. Insgesamt gesehen ist das Fernsehen nach wie vor die häufigste Freizeitbeschäftigung der Deutschen, 98 Prozent schauen regelmäßig. Es folgen Radiohören, Internet und den eigenen Gedanken nachgehen.
Facebook, Smartphone & Co. haben die Freizeit verändert: Statt auszuspannen, jagen die Deutschen auch privat hinter jedem neuen Ereignis her. Dagegen regt sich jetzt eine neue Sehnsucht nach Ruhe, wie eine Studie zeigt.
Berlin. Immer schneller und möglichst vieles gleichzeitig: Was für die Arbeitswelt gilt, macht vor der Freizeit nicht halt. Wer mit Freunden ausgeht, verfolgt oft auch Nachrichten auf dem Mobiltelefon, macht Fotos, verschickt Kurznachrichten und beantwortet noch schnell den Anruf vom Kollegen. In der repräsentativen Umfrage „Freizeit-Monitor“, den die Stiftung für Zukunftsforschung gestern in Berlin vorgestellt hat, ist aber auch ein zaghafter Gegentrend zu spüren.
Die Hälfte der Befragten möchte auch mal faulenzen und nichts tun – schlichtweg das, wofür Freizeit vor neuen Medien und Multitasking auch einmal stand.
„Die Freizeit ist stressiger geworden. Wir sehnen uns nach Ruhe“, bilanziert Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung. „Es gibt kaum noch eine Freizeitaktivität, die länger als zwei Stunden dauert. Dann muss ein neuer Reiz her.“Früher sei Freizeit das Gegenstück zur Arbeitszeit gewesen. Sie stand dafür, sich von und für die Arbeit zu regenerieren – weniger für Konsum. Heute seien viele Menschen auch in ihrer Freizeit Getriebene, oft aus Angst, etwas zu verpassen.
„Wir hängen an den ganzen Medien dran, sind ständig erreichbar und beschleunigen uns selbst. Doch wir merken langsam, dass uns das nicht gut tut und wir Regeneration brauchen“, sagt auch Rainer Hartmann, Freizeitforscher an der Hochschule Bremen. Dieses Bedürfnis nach Entschleunigung werde in der nächsten Zeit wachsen, prophezeit der Wissenschaftler. „Wir können das hohe Tempo nicht halten. Viel schneller geht nicht mehr.“Aufmerksamkeitsdefizite und Burnout schon bei Jüngeren hätten auch damit zu tun, dass sich viele Menschen kaum noch auf eine Sache konzentrierten, selbst in ihrer freien Zeit.
Doch warum stresst die Freizeit so? Für Forscher Reinhardt hat sie heute einen anderen Stellenwert. „Aktivitäten sagen heute sehr viel darüber aus, wer wir sind und was wir darstellen wollen“, betont er. Viele suchten sich bewusst „angesagte“Beschäftigungen aus, über die sich reden und posten lasse. „Wirkliche Erholung tritt dabei in den Hintergrund.“Heute mute es skurril an, dass noch in den 1960er Jahren „aus dem Fenster schauen“auf den obersten Rängen der Freizeitbeschäftigungen rangierte. „Heute treffen wir heute 20 000 Entscheidungen pro Tag.“„Out“ist, was einen langen Atem braucht – ein Instrument zu lernen, zu malen, zu dichten oder Handarbeit. Auch Oper, Theater oder Ballett verbüßen große Minuspunkte. Und viel ehrenamtliche Arbeit scheint ein Mythos zu sein: Zwei Drittel des Befragten gaben an, sich bei all dem Alltagsstress niemals dafür zu engagieren.
Unter den deutlichen Verlierern in der Freizeit – immerhin fast vier Stunden am Tag – sind vor allem die „echten“sozialen Kontakte mit Verwandten und Freunden. Es wird vorwiegend telefoniert oder gechattet. „Kommunikation wird immer indirekter“, folgert Wissenschaftler Hartmann. Dabei sei das alles gar nicht gewollt, ergänzt Studienleier Reinhardt. „Viele Leute möchten sich viel lieber mit einem Kumpel auf ein Bier treffen. Statt darüber zu skypen, dass es ja ganz nett wäre, mal wieder in die Kneipe zu gehen.“Doch zwischen Wunsch und Wirklichkeit klaffe eine große Lücke.
Die glücklichste Generation sind für Forscher Reinhardt die Senioren. „Die Älteren haben noch gelernt, sich Zeit zu nehmen.“Sie engagierten sich deutlich mehr für soziale Dinge. Die mittlere Generation bleibe fast atemlos zwischen Job, Verpflichtungen und Familie eingezwängt. Abends seien viele zu kaputt, um noch etwas zu unternehmen.
Selbst Kinder haben nach Meinung der Wissenschaftler kaum noch selbstbestimmte Freizeit. Eltern schwebten oft wie Helikopter über ihnen und organisierten Aktivitäten samt Chauffeurdienst. Was die Schule nicht an Freizeit stehle, investierten immer mehr Kinder in MedienGedaddel. Doch Forscher Reinhardt hält den gegenwärtigen Zustand nicht für die Zukunft. „Viele Menschen wollen Geselligkeit nicht mehr nur 2.0 erleben, sondern wieder in ihrem eigenen Wohnzimmer.“