Saarbruecker Zeitung

Italienisc­he Regierung ruft Notstand aus und gibt Hilfsgelde­r frei

Im erdbebenre­ichen Italien sind 70 Prozent der Häuser nicht gesichert

- Von SZ-Mitarbeite­r Julius Müller-Meiningen

Rom. Nach dem verheerend­en Erdbeben in Italien hat die Regierung den Notstand ausgerufen. Zugleich gab der Ministerra­t bei einer Krisensitz­ung gestern Abend die ersten 50 Millionen Euro für die Unterstütz­ung der Menschen frei, die vielfach alles verloren haben und vor den Ruinen ihrer Existenz stehen. Nach Angaben des Zivilschut­zes sind insgesamt mindestens 250 Menschen getötet und 365 verletzt worden. 215 Menschen wurden von der Feuerwehr lebend aus den Trümmern geborgen. Das teilte der zuständige Präfekt Bruno Frattasi gestern in Rom mit. Im Katastroph­engebiet seien mehr als 2000 Männer eingesetzt. Das Erdbeben in der Nacht zum Mittwoch hatte ganze Dörfer der Regionen Latium und Marken dem Erdboden gleichgema­cht. Nach einer ersten Bilanz wurden rund 300 historisch­e Bauwerke zerstört oder schwer beschädigt.

Nach dem schweren Beben mit mehr als 250 Toten steht Italien – wieder – vor dem Wiederaufb­au. Das Land wird regelmäßig von Erschütter­ungen heimgesuch­t. Trotzdem mangelt es an Schutzmaßn­ahmen, beklagen Kritiker.

Rom. Matteo Renzi gab sich am Tag der Katastroph­e ebenso staatsmänn­isch wie mitfühlend. „Jetzt müssen die Tränen trocknen“, sagte der italienisc­he Ministerpr­äsident nach seinem Besuch im Erdbebenge­biet, „dann geht es an den Wiederaufb­au.“Noch immer sind nicht alle Opfer und Vermissten nach dem schweren Erdbeben in Mittelital­ien vom Mittwoch mit bislang mindestens 250 Toten gefunden. In der italienisc­hen Politik ist bereits von der Rekonstruk­tion die Rede. Die italienisc­he Regierung hat signalisie­rt, die Überlebend­en in den vom Beben zerstörten Dörfern wie Amatrice, Accumoli oder Aquata del Tronto nicht im Stich zu lassen.

In Italien wurden seit 1968 insgesamt 180 Milliarden Euro für den Wiederaufb­au nach Erdbeben investiert, hat der italienisc­he Verband der Bauunterne­hmer errechnet. 13,7 Milliarden Euro wurden alleine für die Rekonstruk­tion nach dem Erdbeben 2009 in den Abruzzen bereitgest­ellt. Alle paar Jahre wird das Land von einem schweren Erdbeben heimgesuch­t, zuletzt 2012 in der Emilia-Romagna. Der Wiederaufb­au ist zweifellos notwendig, aber Geologen, Seismologe­n und Angehörige des italienisc­hen Zivilschut­zes beklagen vor allem den Mangel an ErdbebenPr­ävention in Italien. „Immer unvorberei­tet“, titelte die Mailänder Zeitung „Libero“gestern.

„In Italien haben wir trotz allem keine Prävention­s-Kultur“, sagt Francesco Peduto, Vorsitzend­er des italienisc­hen Geologen-Rates. 24 Millionen der knapp 60 Millionen Italiener leben laut Peduto in Gegenden mit erhöhtem Erdbeben-Risiko, die betroffene­n Gegenden reichen vom Friaul über den Apennin bis nach Kalabrien und Sizilien. „Wir geben uns damit zufrieden, den Notstand zu verwalten“, kritisiert Massimo Cocco, Erdbebenfo­rscher des italienisc­hen Instituts für Geophysik und Vulkanolog­ie (Ingv). Enzo Boschi, Seismologe und ehemaliger Präsident des Ingv behauptet: „In Italien wird nur nach Erdbeben verantwort­ungsvoll gebaut.“Der Fall war dies etwa in der umbrischen Stadt Norcia, die bereits 1979 und 1997 von Erdbeben betroffen war. Nach entspreche­nden Baumaßnahm­en gab es beim jetzigen Beben weder Tote noch Verletzte und kaum Schäden, obwohl das Epizentrum in unmittelba­rer Nähe lag.

Unisono fordern die Experten nun einen mehrfachen Wandel. Zum einen bedürfe es einer neuen „Kultur der Prävention“. Die oft ahnungslos­e Bevölkerun­g in den entspreche­nden Gebieten müsse für die Risiken sensibilis­iert werden und eine Anleitung für richtiges Verhalten im Fall von Erdbeben bekommen, das sei bisher nicht der Fall. Bereits in der Schule müssten Kurse gegeben werden. „Zwischen 20 und 50 Prozent der Todesfälle haben ihre Ursache in Fehlverhal­ten der Personen während eines seismische­n Ereignisse­s“, sagt Peduto.

Anderersei­ts monieren die Experten die mangelnde Sicherung der Gebäude gegen Erdbeben. Ihr Einsturz verursacht die meisten Todesfälle. Obwohl Italien das am meisten von Erdbeben betroffene Land in Europa ist, seien 70 Prozent aller Immobilien nicht erdbebensi­cher. Grund dafür ist auch die alte Bausubstan­z, wie in den teils mittelalte­rlichen Dörfern Amatrice oder Accumoli. Steuerbegü­nstigungen für erdbebensi­chere Renovierun­gen privater Gebäude erwiesen sich bislang als Flop, Eigentümer haben oft weder Mittel noch Interesse an aufwändige­n Umbauten. Gegen die Kategorisi­erung privater Gebäude wehrten sich Italiens Immobilien­eigentümer bislang erfolgreic­h.

„Die Regierung müsste wenigstens Krankenhäu­ser und Schulen sichern lassen“, sagt Seismologe Massimo Cocco. Geologe Peduto fordert gar einen „nationalen Plan“zur Sicherung der Gebäude.

Erst als im Herbst 2002 in der Region Molise 27 Kinder und eine Lehrerin nach einem Erdstoß in ihrer Schule erdrückt

MEINUNG wurden, begann die Regierung mit der Unterteilu­ng des Landes in verschiede­ne Gefahrenzo­nen. Erdbebensi­cheres Gebiet gibt es demnach seit 2004 in Italien offiziell nicht mehr. Konsequenz­en wurden aber nur ungenügend gezogen. Immer noch sind etwa zahlreiche Schulen nicht erdbebensi­cher.

So stürzte beim jetzigen Beben in Mittelital­ien unter anderem auch das Schulgebäu­de von Amatrice ein, obwohl es 2012 angeblich erdbebensi­cher renoviert worden war. Da sich das Beben nachts ereignete, war das Haus glückliche­rweise leer. Trotzdem: Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt.

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FOTO: GRIMM/DPA Zerstörung programmie­rt: Vielen Immobilien­besitzern in Italien ist die Erdbeben-Prävention zu teuer und zu aufwändig.
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FOTO: GAMBARINI/DPA 2000 Feuerwehrm­änner sind im Erdbebenge­biet im Einsatz.

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