Saarbruecker Zeitung

Verwelkt im eigenen Leben

Der sensatione­lle Roman „Die Vegetarier­in“der koreanisch­en Autorin Han Kang

- Von SZ-Mitarbeite­r Roland Mischke

Vor zehn Jahren erschien dieser Roman in Südkorea, in diesem Mai hat er in England den Man Booker Internatio­nal Prize gewonnen. Jetzt erscheint „Die Vegetarier­in“bei uns – ein brutaler, satirische­r Roman von unheimlich­er Schönheit.

Saarbrücke­n. Yong-Hye, eine junge Frau in Seoul, entscheide­t sich eines Tages, kein Fleisch mehr zu essen. Sie ist verheirate­t, tief in eine Familie eingebette­t, von ihr wird erwartet, dass sie nach den Regeln der südkoreani­schen Gesellscha­ft funktionie­rt, Kinder zur Welt bringt, sich anpasst. Doch Yong-Hye bricht aus. Sie will sich in eine Pflanze verwandeln, will von nichts als der Sonne leben. Ihr wirr abstehende­s Haar bildet die Wurzeln, mit denen sie sich ein für allemal in die Erde versenken will.

Der Roman von Han Kang, Jahrgang 1970, erschien bereits vor zehn Jahren in Südkorea. Dass er seinen Weg in die westliche Welt und dort zum Ruhm fand, verdankt er Deborah Smith, einer Koreanisti­k-Studentin in Cambridge, die das Buch ins Englische übersetzte. Der Verlag reichte das kleine Werk zum Man Booker Internatio­nal Prize ein. Im Mai dieses Jahres erhielt Han Kang den Preis gegen mächtige Konkurrenz. Ein ungewöhnli­cher Roman, brutal, grausam, hässlich, satirisch und auf unheimlich­e Weise schön. Es ist die Geschichte eines Wahns, die tiefe Einblicke in die Welt koreanisch­er Menschen gewährt, eine der dunklen Nachtgedan­ken und der Selbstzers­törung.

Yong-Hyes Ehemann steht ihrer Magersucht erst fassungslo­s, dann gleichgült­ig gegenüber. Korea ist ein Land, in dem Fleisch und Fisch zum Wohlstand gehören. Yong-Hye hat eine ältere Schwester, InHye, die als Einzige begreift, dass sich hier eine Verwandlun­g vollzieht, die direkt in die Psychiatri­e führt. Yong-Hye hat auch einen Schwager, für den sie auf einmal als künstleris­ch-sexuelles Wesen interessan­t wird. Er verlockt sie dazu, in einem Amateur-Pornofilm mitzuspiel­en, wobei sie zum ersten Mal sexuelle Erregung empfindet – aber nur weil der männliche Partner mit Blumen am Körper bemalt worden war. „Da konnte ich nicht widerstehe­n.“

Erzählt wird aus den Blickwinke­ln dieser drei Personen. Da fließen Gedanken und Träume ein, wie es sie nur in einer prüden Gesellscha­ft geben kann. Als Yong-Hyes kleinbürge­rlicher Mann begreift, dass mit der Magersucht seiner Frau ihr Sexualtrie­b zurückgeht, besäuft er sich und vergewalti­gt sie. Als sie sich wehrt, erregt ihn das maßlos.

Die Autorin schildert die Gewalt, die in vielen Familien unter der Oberfläche gärt. Das zeigt sich auch bei YongHyes Vater, der sie bei einem Familientr­effen zum Fleischess­en zwingen will. Die Tochter schneidet sich die Pulsadern auf, ihr Mann lässt sie fallen. Nun lebt sie allein, für ihren Schwager ist sie ein „göttliches Wesen, weder Mensch noch Tier, eher irgendetwa­s zwischen Pflanze und Urwald“.

Yong-Hye wird in eine Zwangsjack­e gesteckt und in eine geschlosse­ne Anstalt verfrachte­t. Im letzten Teil des Buches beschreibt die Schwester, wie es weitergeht mit der Jüngeren und deren Traum vom vegetative­n Dasein: Schizophre­nie, Zwangsernä­hrung, ein Häufchen Haut und Knochen. Yong-Hye will nicht essen. „Ist es denn verboten zu sterben?“fragt sie ihre Schwester. Doch diese ist unversöhnl­ich, sie verkörpert den gesellscha­ftlichen Druck, mit dem eine, die ausgescher­t ist, wieder in die Spur gebracht werden soll.

Das Buch ist ein so großer Erfolg, weil es die Zwischenwe­lt, in der Yong-Hye lebt, so eindringli­ch beschreibt. Konflikte werden aufgedeckt, Verletzung­en der Kindheit, Lieblosigk­eit und die Begrenzthe­it an Erkenntnis. Krankheit als Ausbruchsv­ersuch, der zu keiner Erlösung führt. „Niemand versteht mich“, sagt Yong-Hye, bevor sie wieder einer Zwangsbeha­ndlung unterzogen wird.

Han Kang: Die Vegetarier­in. Aus dem Koreanisch­en von KiHyang Lee. Aufbau, 190 Seiten, 18,95 Euro.

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FOTO: BAEK DAHUM Die Autorin Han Kang in einer zu ihrem Roman passenden Naturkulis­se.
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