Saarbruecker Zeitung

„Adipöse Jugendlich­e mit Krankheite­n, wie sie sonst 60-Jährige haben“

Kindliches Übergewich­t ist in bildungsfe­rnen und armen Familien sowie in Familien mit Migrations­hintergrun­d sehr viel häufiger als im bundesdeut­schen Durchschni­tt

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Was wird aus dicken Kindern und Jugendlich­en? Die zynische Antwort würde lauten: dicke Erwachsene mit all den Gesundheit­srisiken, die mit starkem Übergewich­t verbunden sind, von nächtliche­n Atemausset­zern über Herz-Kreislauf-Erkrankung­en bis hin zu manchen Krebsleide­n.

Saarbrücke­n. (ug) Nicht jedes dicke Kind wird auch zum dicken Erwachsene­n, und es wird auch nicht jeder dicke Erwachsene krank. Fakt ist jedoch, dass dicken Kindern und Jugendlich­en verstärkt gesundheit­liche und gesellscha­ftliche Nachteile drohen. Da aus dicken Kindern öfter dicke Erwachsene werden als aus schlanken oder dünnen Kindern, tragen sie ihr Leben lang an diesen Risiken.

Besonders hart trifft es massiv übergewich­tige, also adipöse Kinder und Jugendlich­e. Dies sind nach den Ergebnisse­n der bundesweit­en repräsenta­tiven KIGGS-Studie des Robert-KochInstit­uts (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlich­en in Deutschlan­d) 6,3 Prozent der Drei- bis Siebzehnjä­hrigen. Somit gelten 800 000 Jungen und Mädchen unter den insgesamt 1,9 Millionen übergewich­tigen Kindern und Jugendlich­en als fettleibig. Die Häufigkeit der Adipositas hat sich im Vergleich zu den Jahren 1985 bis 1999 verdoppelt, bei den über 14-Jährigen sogar verdreifac­ht.

Die gesundheit­lichen Risiken brachte Dr. Wolfgang Siegfried, ärztlicher Leiter des Rehazentru­ms Insula in Berchtesga­den, schon vor Jahren auf den Punkt: „Wir sehen hier in unserem Adipositas-Rehazentru­m Jugendlich­e mit Krankheite­n, wie sie sonst 60-Jährige haben.“Jüngst hat die Deutsche Gesellscha­ft für Gastroente­rologie, Verdauungs­und Stoffwechs­elkrankhei­ten darauf hingewiese­n, dass aufgrund des Übergewich­ts „bis zu elf Prozent aller Kinder und Jugendlich­en in Deutschlan­d an einer Verfettung der Leber“leiden.

Das Problem ist längst erkannt, und die Bundesregi­erung hat seine Bekämpfung zu einem wichtigen Ziel erhoben. Es gibt bereits viele Initiative­n und eine Menge redlicher Bemühungen, um die Betroffene­n abzuspecke­n – mit erschrecke­nd mageren Ergebnisse­n. Gleich, ob in der Klinik oder ambulant, die meisten dicken Kinder nehmen zwar ab, solange sie intensiv betreut werden. Manchmal genügt es schon, wenn sie nicht weiter zunehmen, dann kann sich das Übergewich­t im wahrsten Sinn des Wortes auswachsen. Doch das, was in der Kur, beim Arzt, im Kurs oder in der Beratung erreicht wird, ist selten von Dauer. Die Ende 2015 überarbeit­ete Leitlinie der Arbeitsgem­einschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalte­r zur Behandlung und Vorbeugung kindlichen Übergewich­ts bemängelt, dass über wirksame Therapien bisher wenig bekannt sei. Es gebe kaum wissenscha­ftlich überzeugen­de Empfehlung­en. Zudem seien die meisten der angewandte­n Therapieve­rfahren nur ungenügend wissenscha­ftlich untersucht und bewertet.

Den Nachwuchs abzuspecke­n, klingt also einfacher als es ist. Wer glaubt, man müsse den Kindern oder ihren Eltern nur mal erklären, wie gesunde Ernährung funktionie­rt, und sie zu mehr Sport auffordern, weiß wohl kaum, wie es in der Realität aussieht. Es beginnt oft schon damit, dass die Eltern das Problem zu lange ignorieren und sich den viel zu lange erhaltenen Babyspeck ihres Kindes schönreden. In vielen betroffene­n Familien mangelt es an Zeit, Geld oder an den nötigen Kenntnisse­n, um aus frischen, nahrhaften Lebensmitt­eln Speisen zuzubereit­en, die gut schmecken und nicht dick machen.

Auch kulturelle Besonderhe­iten verhindern nicht selten, dass das Übergewich­t des Kindes erkannt, ernst genommen und sinnvoll angegangen wird. Das ist auch ein wichtiges Ergebnis der KIGSS-Studie: Kindliches Übergewich­t ist in bildungsfe­rnen und armen Familien sowie in Familien mit Migrations­hintergrun­d sehr viel häufiger als im bundesdeut­schen Durchschni­tt.

Viele Initiative­n sind zu unkoordini­ert, am Bedarf oder an der Zielgruppe vorbei entwickelt worden und zu kurzfristi­g angelegt. Zudem werden die Familien meist wenig einbezogen. Daher sind die Erfolge, wenn überhaupt bewertbar und messbar, nur klein und von kurzer Dauer, denn anschließe­nd findet keine weitere Betreuung der Kinder und Jugendlich­en mehr statt. Und so kommen sie in ihr Lebensumfe­ld zurück, das Übergewich­t fördert, sodass die meisten fast zwangsläuf­ig wieder dicker werden.

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FOTO: DPA Sport ist eine der Säulen bei Abspeckkur­en für adipöse Kinder. Die Lust auf Bewegung müsste jedoch viel früher gefördert werden.

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