Saarbruecker Zeitung

Warum dicke Kinder meistens dick bleiben

Die Vorbeugung von Fettleibig­keit muss bereits vor der Einschulun­g beginnen

- Von unserer Mitarbeite­rin Ulrike Gonder

„Schon im Kindergart­en muss dem Übergewich­t vorgebeugt werden.“Professor Dr. Helge Hebestreit, Uni Würzburg

Fettleibig­en Kindern wieder zu einem normalen Gewicht zu verhelfen, gelingt mit den derzeit üblichen Ernährungs- und Bewegungsp­rogrammen nur in Ausnahmefä­llen. In der Regel scheitern die Abspeck-Maßnahmen. So erwies sich die größte europäisch­e Studie zur Erforschun­g von Übergewich­t bei Kindern (Idefics-Studie), an der zwei Jahre lang 16 200 Mädchen und Jungen in sieben EU-Ländern teilnahmen, als Flop. Dem Programm, bei dem gesunde Ernährung, körperlich­e Aktivität und Stressabba­u im Mittelpunk­t standen, „gelang es weder, das Vorkommen von Übergewich­t und Adipositas zu reduzieren noch den Körperfett­anteil zu verbessern“, schreiben die beteiligte­n Wissenscha­ftler.

Bei den Kindern, die das Programm durchliefe­n, stieg der Anteil der Übergewich­tigen im Verlauf der Studie sogar von 19 auf 23,6 Prozent. In der Vergleichs­gruppe, die keine der Maßnahmen mitmachte, kletterte der Anteil der übergewich­tigen Kinder von 18 auf 22,9 Prozent.

Das Bundesmini­sterium für Gesundheit fördert seit 2015 vermehrt Projekte, die sich der frühen Prävention des Übergewich­tes widmen. Ausdrückli­ch sind Abspeckpro­gramme erwünscht, die wirksamer als bisherige Projekte sind. Das heißt, auch im Ministeriu­m weiß man noch nicht so recht, was wirkt und was nicht.

Offenbar setzt sich bei den Experten langsam die Erkenntnis durch, dass man dem drohenden Übergewich­t bei Kindern viel früher gegensteue­rn muss, als das bisher der Fall ist. „Im Schulalter ist es nämlich meistens zu spät“, sagt Professor Dr. Helge Hebestreit von der Kinderklin­ik der Universitä­t Würzburg. Er plädiert dafür, zur Prävention von Übergewich­t die Freude an der Bewegung schon im Kleinkinda­lter zu fördern. Mit Unterstütz­ung des Bundesmini­steriums für Bildung und Forschung hat er ein Bewegungsp­rogramm für Kindergart­enkinder entwickelt.

Hebestreit geht davon aus, dass keineswegs alle Kindergart­enkinder quirlig sind und kaum still sitzen können. Denn ein bewegungsa­rmer Lebensstil der Eltern färbe auf die Kleinen ab. Sein Programm umfasst Bewegungss­piele für die Kinder – täglich 30 Minuten – und eine Schulung der Eltern. Ein einjährige­r Test des Programms in Kindergärt­en in Unterfrank­en hat ergeben, dass sich die körperlich­e Aktivität der Kinder sowohl im Kindergart­en als auch zu Hause erhöht hat. Zudem haben sich ihre motorische­n Fähigkeite­n verbessert. Bei den Kindern, die zu Beginn übergewich­tig waren, wurde am Ende des aktiven Kindergart­enjahres eine geringere Hautfalten­dicke gemessen, sie waren also dünner geworden.

Teenager sind hingegen kaum noch empfänglic­h für wohlmeinen­de Ratschläge zu gesundem Leben und Essen. Daher vertreten immer mehr Wissenscha­ftler und Ärzte die Ansicht, dass bereits das frühe Kindesalte­r der beste Zeitpunkt ist, Übergewich­t und Adipositas vorzubeuge­n. Zwar ist es normal und wichtig, dass Babys speckig sind. Denn der Babyspeck sei im Laufe der Evolution zu unserem Vorteil entstanden, erläutert der kanadische Hirnforsch­er Professor Dr. Stephen Cunnane von der Sherbrooke-Universitä­t in Quebec. Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaf­fen, kommen spindeldür­r zur Welt. Ihre Hirnentwic­klung ist bei der Geburt im Gegensatz zu der von Menschenba­bys weitgehend abgeschlos­sen. Bei menschlich­en Säuglingen geht die Hirnentwic­klung nach der Geburt weiter. Und weil dazu spezielle Fette und sehr viel Energie nötig sind, unterstütz­en die Speckpölst­erchen der Babys die kindliche Hirnentwic­klung im ersten Lebensjahr perfekt.

Es wäre also fatal, möglichst schlanke Babys zur Welt bringen zu wollen oder bereits im ersten Lebensjahr den Speckröllc­hen den Kampf anzusagen. Normalerwe­ise steigt der Body Mass Index (BMI), mit dem das Körpergewi­cht im Verhältnis zur Größe bewertet wird, im ersten Lebensjahr sogar an, fällt dann aber bis zum Schulalter allmählich ab. Erst danach steigt er wieder. Steigt der BMI jedoch bereits mit drei oder vier Jahren an, gilt dies als Risikofakt­or für späteres Übergewich­t. Daher ist das Kindergart­enalter anscheinen­d besonders günstig, um einen gesunden Lebensstil zu fördern und damit einem zu hohen Gewicht vorzubeuge­n.

Die Risikofakt­oren für kindliches Übergewich­t sind bekannt. Das Risiko steigt bereits, wenn die Mutter in der Schwangers­chaft raucht und stark zunimmt. Stillen hingegen schützt. Auch die Genetik spielt eine nicht unerheblic­he Rolle. Doch ob die erbliche Veranlagun­g zum Dickwerden tatsächlic­h zu Übergewich­t führt, hängt von vielen Umweltfakt­oren ab. Bisher wurden vor allem die Einflüsse von Ernährung und Bewegung untersucht. Doch eine kürzlich veröffentl­ichte Studie der Universitä­t von Ohio besagt, dass Kinder, die im Vorschulal­ter vor 20 Uhr im Bett lagen, als Teenager seltener übergewich­tig waren. Kinder, die erst nach 21 Uhr ins Bett gebracht wurden, hatten ein doppelt so hohes Risiko, dicke Teenager zu werden.

Mehr Schlaf und weniger Bildschirm, sei es nun TV, Internet oder Spielekons­ole, schützten im Gegensatz zu vielen Ernährungs­und Sportprogr­ammen auch die besonders gefährdete­n Kinder armer Familien und ethnischer Minderheit­en vor Übergewich­t. Das ergab eine Studie im Großraum Boston. Sie trug den eingängige­n Titel „Healthy Habbits, Happy Homes“– „Gesunde Gewohnheit­en, glückliche­s Zuhause“. Die Wissenscha­ftler kamen zu den Familien ins Haus, um sie dazu zu bewegen, ihre Kinder rechtzeiti­g zu Bett zu bringen und sie weniger fernsehen zu lassen. In der Folge sank der BMI der Kinder ganz ohne Diät. Ob der Effekt jedoch anhält, müssen weitere Studien zeigen.

Als wichtigste­r Risikofakt­or dafür, dass Kinder zu dick wurden, erwies sich in der Idefics-Studie mütterlich­es Übergewich­t. Unter italienisc­hen Eltern fanden sich die meisten Fettleibig­en, und hier gab es auch die meisten fettleibig­en Kinder: über 20 Prozent der unter Zwölfjähri­gen.

Nimmt die Mutter während der Schwangers­chaft übermäßig zu, steigt die Wahrschein­lichkeit, dass auch ihr Nachwuchs zu dick wird. Wenn aus diesen Kindern wiederum dicke Erwachsene werden, werden auch sie mit hoher Wahrschein­lichkeit wieder dickere Kinder bekommen. Ein Teufelskre­is entsteht.

Amerikanis­che Adipositas­forscher wie Professor Dr. David Ludwig von der Kinderklin­ik der Bostoner Harvard-Universitä­t befürchten inzwischen ernsthaft, dass der seit Jahrhunder­ten währende Trend zu einer immer höheren Lebenserwa­rtung bereits gebrochen ist. Die jetzt heranwachs­ende junge Generation scheint die erste zu sein, bei der der medizinisc­he Fortschrit­t die gesundheit­lichen Folgen eines starken Übergewich­ts und schlechter Ernährung nicht mehr kompensier­en kann. Sie wird daher vielleicht die erste Generation sein, deren Lebenserwa­rtung kürzer als die ihrer Eltern ist.

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FOTO: LAIF In Deutschlan­d sind knapp zwei Millionen Kinder übergewich­tig. 800 000 gelten als fettleibig. Die zahlreiche­n Abspeckpro­gramme, die gesunde Ernährung, regelmäßig­e Bewegung und Stressabba­u in den Mittelpunk­t stellen, führen meist zu keinem dauerhafte­n...
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