Grenzöffnungsfragen statt Lautsprecheransagen
Eindrücke vom 51. Deutschen Historikertag in Hamburg
3500 Historiker an einem Ort, kann das gut gehen? Der Historikerkongress deckte ein großes Themenspektrum ab, darunter ganz aktuelle Migrationsfragen.
Hamburg. Der Deutsche Historikertag hat eine über 50-jährige Erfahrung damit, auf seinen alle zwei Jahre stattfindenden Kongressen die „kritische Masse“des Sachverstandes zu ordnen und es nicht zur Kernschmelze kommen zu lassen. In Hamburg kam es in den letzten vier Tagen dennoch zu einer kritischen Situation: Unter Leitung von Ulrich Herbert (Freiburg) sollte im Hörsaal M der Uni ein Podium unter dem Motto „Hitler. Eine historische Vergewisserung“diskutieren. Die Teilnehmer garantierten ein volles Haus: Konrad Jarausch (Chapel Hill), Jürgen Kaube (Mitherausgeber der „FAZ“), Birthe Kundrus (Uni Hamburg) und Andreas Wirsching (Uni München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte). Als die Diskussion um 9 Uhr beginnen sollte, war der Hörsaal M überfüllt, vor der Tür begehrten Hunderte Zutritt, die Übertragung in einen anderen Saal war nicht möglich – Frust! Ein Blick ins Programmheft ergab eine zeitgleiche Alternative: Weil Indien Partnerland des Kongresses war, diskutierte man im nahen Audimax über „Geteiltes Indien und geteiltes Deutschland in den Zeiten des Kalten Krieges“. Vor viel lichteren Reihen.
Weit über 100 Veranstaltungen standen während der vier Tage zur Auswahl. Nicht wenige waren dem Generalthema „Glaubensfragen“gewidmet. Vom Altertum führen Religionsfragen nicht nur auf Nebenwegen in die Gegenwart. Die wissenschaftliche Kernfrage „Glaube oder Wissen“spielt jenseits aller Fragen um Gott und die Welt bei vielen Historikern seit langem eine Rolle.
Interessant wurde es, als sich ein Podium mit „75 Jahre nach Babyn Jar“beschäftigte, dem von deutschen Einsatzgruppen 1941 verübten Massaker, bei dem mehr als 33 000 Kiewer Juden in einer nahegelegenen Schlucht ermordet wurden. Das Gedenken daran war in der Sowjetunion aus antisemitischen Gründen jahrelang unterdrückt. In der Ukraine dreht sich heute die „nationale“Diskussion um die Beteiligung ukrainischer Polizisten und Nationalisten am Holocaust.
Zum gestrigen Kongress-Finale kamen auch tagesaktuelle Herausforderungen an die Geschichtswissenschaft zur Sprache: „Flucht und Grenzen – eine historisch-politische Debatte“. Unter Leitung von Johannes Paulmann (Uni Mainz) bemängelten Dieter Gosewinkel (Wissenschaftszentrum Berlin), die grüne Europaabgeordnete Barbara Lochbihler und Jochen Oltmer (Osnabrück) die fehlende Diskussion über die Verwirklichung von Ansprüchen auf Aufnahme in Europa und Deutschland. Grenzen seien nicht grundsätzlich schlecht. Menschenrechte würden nur von Staaten garantiert werden können, also innerhalb ihrer Grenzen. Auf die Tagesordnung gehöre nicht die Frage ob, sondern wie und für wen europäische oder nationale Grenzen durchlässig sein sollten, waren sich die Diskutanten einig. Die „Zugangsberechtigung“für ganz unterschiedliche Migranten- und Flüchtlingsgruppen sei endlich öffentlich auszuhandeln. Dieser Prozess müsse bloße „Lautsprecheransagen“wie die zu Obergrenzen ablösen, hieß es.
Und sonst? Zeigte ein Doktorandenforum, wie vielfältig Geschichtsforschung heute ist. Und fokussierte ein Schülerprogramm auf den Geschichtsunterricht an Schulen. Der, ein in Hamburg kritisierter Missstand, oft fachfremd erfolgt.