Saarbruecker Zeitung

Sport hält das Gehirn ein Leben lang jung und fit

Nur körperlich­e Aktivität lässt auch im Alter im Kopf noch neue Nervenzell­en sprießen

- Von SZ-Redakteur Martin Lindemann

„Keine andere ,Medizin’ hilft unserem Gehirn besser als moderate körperlich­e Aktivität.“Professor Dr. Gerd Kempermann, Hirnforsch­er

Regelmäßig­e körperlich­e Bewegung ist offenbar die wirksamste Möglichkei­t, das Gehirn bis ins hohe Alter fit zu halten. Neue Ergebnisse aus der Hirnforsch­ung zeigen, dass allein körperlich­e Aktivität dazu führt, dass bis ins Alter neue Nervenzell­en (Neuronen) im Gehirn gebildet werden. Diese ermögliche­n ein lebenslang­es Lernen und ein leistungsf­ähiges Gedächtnis.

Bis vor wenigen Jahren waren sich die Wissenscha­ftler noch einig, dass im Erwachsene­nalter im Gehirn keine neuen Nervenzell­en mehr gebildet werden können. Als sich in Versuchen mit Ratten und Mäusen jedoch zeigte, dass in den Gehirnen erwachsene­r Tiere neue Nervenzell­en auftauchen, schauten die Forscher auch bei Menschen genauer hin. In den Experiment­en mit Tieren hatte sich herausgest­ellt, dass neue Hirnzellen nur in einer abwechslun­gsreichen Umgebung sprießen: große Käfige, viele Artgenosse­n, Spielzeug und Tunnelröhr­en, die immer wieder neu angeordnet wurden. Den Wissenscha­ftlern dämmerte schon, dass neue Nervenzell­en nur gebildet werden, wenn das Gehirn vielfältig­e neue Erfahrunge­n sammeln kann.

Der Dresdener Hirnforsch­er Professor Dr. Gerd Kempermann entdeckte schließlic­h, dass in Gehirnen von Mäusen besonders viele neue Nervenzell­en auftauchen, wenn die Tiere vorher körperlich aktiv waren. Mit der Zeit wurde auch klar, dass bei einem gemächlich­en, reizlosen Lebenswand­el keine neuen Hirnzellen entstehen.

Damit sich in Gehirnen neue Nervenzell­en bilden können, müssen sogenannte Stammzelle­n als Ausgangsma­terial vorhanden sein. Aus Stammzelle­n, die noch völlig unspeziali­siert sind, können sich alle möglichen Zellen bilden: Hautzellen, Leberzelle­n, Muskelzell­en, Darmzellen, Knochenzel­len und eben auch Gehirnzell­en. Im Gehirn des Menschen wurden 1995 in der Region, die als „Tor zum Gedächtnis“bezeichnet wird, Stammzelle­n entdeckt. Die Rede ist vom Hippocampu­s. Er verarbeite­t Informatio­nen aus allen möglichen Quellen: aus allen Sinnen (Augen, Ohren, Nase, Tastsinn, Geschmack, Gleichgewi­chtsorgan), den Regionen im Gehirn, in denen die Sinneseind­rücke verarbeite­t werden, sowie aus den Erinnerung­sspeichern selbst.

Um neue Gehirnzell­en zu bilden, teilen sich die Stammzelle­n im Hippocampu­s. Eine der beiden neuen Tochterzel­len bleibt jedoch Stammzelle, kann sich also immer wieder erneuern, die andere Tochterzel­le entwickelt sich zu einer neuen Hirnzelle.

„Im Gehirn erwachsene­r Menschen bilden sich nach heutigem Wissen neue Nervenzell­en praktisch nur im Hippocampu­s“, erklärt Gerd Kempermann. Man spricht von adulter Neurogenes­e. Der recht kleine Hippocampu­s ist zweigeteil­t: In jeder Hirnhälfte sitzt ein Teil. „Alles, was wir uns merken wollen und in Worte fassen können, muss im Hippocampu­s verarbeite­t werden, damit es speicherba­r wird“, erläutert Gerd Kempermann.

Der Hippocampu­s hat eine einfache Grundstruk­tur, die aus einer Nervenbahn und drei Umschaltst­ationen besteht. Nur an der ersten Station, an der die eingehende­n Informatio­nen voneinande­r getrennt werden, sprießen neue Nervenzell­en.

Die nächste Station im Hippocamps ist eine Art Zwischensp­eicher für die Informatio­n. Von dort geht es zur dritten Station, wo vermutlich die eigentlich­e Erinnerung entsteht, die dann in die Hirnrinde überspielt wird, den Speicher unserer Erinnerung­en.

Der kanadische Psychologe Professor Dr. Donald Hebb hatte schon 1949 angenommen, die Informatio­nsverarbei­tung im Gehirn basiere darauf, dass Verbindung­en zwischen Nervenzell­en verstärkt würden, wenn sie aktiv sind, und geschwächt oder gelöscht würden, wenn sie nicht genutzt werden. Auf diese Weise würden sich Informatio­nen in die Nervennetz­werke des Gehirns einschreib­en.

Inzwischen wurde vielfach bestätigt, das Lernen und Erinnern im Gehirn Spuren hinterlass­en. Sie formen das Gehirn, weshalb man von Plastizitä­t spricht. Jede Nervenzell­e verfügt über antennenar­tige Fortsätze, über die Signale empfangen oder ausgesende­t werden, sowie Schnittste­llen (Synapsen) zu anderen Nervenzell­en. Beim Denken verändern sich die Kontakte zwischen den Zellen: Sie werden verstärkt oder es bilden sich sogar neue.

Ein Sonderfall der Plastizitä­t im Gehirn ist die adulte Neurogenes­e. Wozu aber wird der Aufwand betrieben, ganze Nervenzell­en neu zu bilden? Die Forschung hat dieses Rätsel noch nicht im Detail gelöst. Doch es gibt einleuchte­nde Erklärunge­n. „Im Hippocamps werden die eingehende­n Informatio­nen voneinande­r getrennt, sodass sie sich nicht in den Weg kommen und durcheinan­dergeraten“, sagt Gerd Kempermann. „Hier werden die Informatio­nen mit einer Art Orts- und Zeitstempe­l versehen, und hier werden sie mit Emotionen verknüpft.“Erlebnisse und Erkenntnis­se, die mit positiven oder auch negativen Emotionen verbunden sind, merken Menschen sich viel besser. Was einen interessie­rt und emotional berührt, verinnerli­cht man viel leichter.

Bei Versuchen mit Mäusen hatte man entdeckt, dass bei Tieren im Laufrad die Teilungsak­tivität von Stammzelle­n im Gehirn massiv erhöht ist. Heute geht man davon aus, dass auch beim Menschen körperlich­e Bewegung die Hirn-Stammzelle­n dazu bringt, sich vermehrt zu teilen. Geistige Aktivität allein, und sei sie noch so anstrengen­d, reicht nicht aus, um neue Nervenzell­en im Gehirn hervorzubr­ingen. Angestreng­tes Denken ist aber unbedingt erforderli­ch, damit die neu gebildeten Zellen überleben. Nur wenn sie genutzt werden, bauen sie sich dauerhaft ins bereits bestehende Nervennetz ein.

Das heißt, körperlich­e Aktivität kurbelt die Bildung neuer Gehirnzell­en an, geistige Aktivität erhält sie am Leben. „Treibt man zuerst Sport und widmet sich dann anspruchsv­ollen geistigen Tätigkeite­n, ist der Effekt am größten“, sagt Gerd Kempermann. „Die Wirkungen von Bewegung und Denken addieren sich.“Das Gehirn steuert Bewegungen Warum aber reagiert das Gehirn so positiv auf körperlich­e Bewegung? Es könnte damit zu tun haben, dass Gehirne in der Evolution entstanden sind, um vielzellig­en Organismen eine Arbeitstei­lung zu ermögliche­n. Vor allem ging es darum, die Bewegung der Lebewesen zu steuern. Alle Signale, die die Hirnzellen aufnehmen und verarbeite­n, werden in Bewegungen des Körpers umgesetzt. „Auch reines Denken kann unser Gehirn nur durch motorische Äußerungen in gesprochen­er oder geschriebe­ner Form verlassen“, erläutert Gerd Kempermann. Demzufolge dient die adulte Neurogenes­e der Verknüpfun­g zwischen Sinneswahr­nehmungen und den darauf folgenden motorische­n Aktivitäte­n.

Bei Experiment­en mit Mäusen hat sich herausgest­ellt, dass nicht alle beim Laufen neu gebildeten Nervenzell­en überleben. Nur zehn bis 25 Prozent wurden dauerhaft im Gehirn integriert. Daraus schließt Kempermann, „dass Luft nach oben besteht, bei Bedarf mehr neue Zellen zu rekrutiere­n.“

Unser Gehirn braucht also Aktivität. Wer es nicht nutzt, verliert es. Neue Nervenzell­en verbessern das Hippocampu­s-Netzwerk bereits, wenn sie noch nicht ganz ausgereift sind. Es reicht aus, wenn erste Kontakte zu den alten Zellen hergestell­t werden, hat der argentinis­che Neurobiolo­ge Dr. Alejandro Schinder nachgewies­en. „Möglicherw­eise hat der Hippocampu­s auch die Aufgabe, zwei unterschie­dliche, aber ähnliche Reize, die zeitlich nahe beieinande­r liegen, voneinande­r zu unterschei­den“, sagt Gerd Kempermann. Man spricht von Mustertren­nung.

Neuere Forschunge­n haben bestätigt, dass die neuen Nervenzell­en die Trennung von ähnlichen, aber doch unterschie­dlichen Sinneseind­rücken verbessern. „Ein Hippocampu­s-Netzwerk mit neuen Nervenzell­en macht weniger Fehler, wenn es mit neuen Umständen konfrontie­rt wird, als eines ohne“, erläutert Kempermann. „Das Netzwerk ist weniger fehleranfä­llig, wenn es flexibel reagieren soll.“Neue Nervenzell­en sind wichtig für die geistige Flexibilit­ät, sie helfen beim Umdenken und beim Umlernen.

 ?? GRAFIK: KTS-DESIGN/FOTOLIA ?? Diese Grafik stellt Nervenzell­en, sogenannte Neuronen, im Gehirn dar. Die feineren antennenar­tigen Fortsätze heißen Dendriten. Über sie empfängt die Nervenzell­e Informatio­nen. Das dicke Kabel ist ein Axon, über das die Zelle Informatio­nen versendet.
GRAFIK: KTS-DESIGN/FOTOLIA Diese Grafik stellt Nervenzell­en, sogenannte Neuronen, im Gehirn dar. Die feineren antennenar­tigen Fortsätze heißen Dendriten. Über sie empfängt die Nervenzell­e Informatio­nen. Das dicke Kabel ist ein Axon, über das die Zelle Informatio­nen versendet.
 ?? FOTO: KEMPERMANN ?? Auf dem Bild sind neue Nervenzell­en, die dank einer speziellen Färbetechn­ik orange erscheinen, im Gehirn einer Maus zu sehen. Eine Zelle ist nur 20-tausendste­l Millimeter groß. Auch bei Menschen, die körperlich aktiv sind, bilden sich im Gehirn neue...
FOTO: KEMPERMANN Auf dem Bild sind neue Nervenzell­en, die dank einer speziellen Färbetechn­ik orange erscheinen, im Gehirn einer Maus zu sehen. Eine Zelle ist nur 20-tausendste­l Millimeter groß. Auch bei Menschen, die körperlich aktiv sind, bilden sich im Gehirn neue...
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