Saarbruecker Zeitung

„Von Entwarnung kann keine Rede sein“

Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller (CSU) über die Flüchtling­skrise, den Wiederaufb­au in Syrien und einen „Marshall-Plan“für Afrika

- PRODUKTION DIESER SEITE: ROBBY LORENZ, IRIS NEU-MICHALIK JÖRG WINGERTSZA­HN

Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) war in diesem Jahr unermüdlic­h unterwegs, um sich in den vom Terror heimgesuch­ten Krisenländ­ern ein Bild zu machen. SZ-Korrespond­ent Hagen Strauß sprach mit ihm.

Ist es richtig, dass sich die Flüchtling­skrise 2016 entspannt hat? Müller: Das sehe ich nicht so. Wir haben immer noch die dramatisch­e Lage in Syrien, wo Hunderttau­sende auf humanitäre Versorgung warten. Dann gibt es die schwierige Situation in der Türkei und in Italien. Dort sind 170 000 afrikanisc­he Flüchtling­e in diesem Jahr angekommen. Und es gibt die teils untragbare­n Zustände in Griechenla­nd. Von Entwarnung kann keine Rede sein. Auch nicht für das Jahr 2017.

Hat denn die internatio­nale Gemeinscha­ft aus den Versäumnis­sen der Vergangenh­eit gelernt? Müller: Was die humanitäre Versorgung der Flüchtling­e in den Ländern um Syrien angeht, würde ich das unterstrei­chen. Das Überleben ist im Augenblick gesichert. Das gilt vor allem für die über vier Millionen Kinder unter den Flüchtling­en.

Woran hapert es aber noch? Müller: Der Krieg muss beendet werden in Syrien. Das ist der entscheide­nde Punkt. Damit die Menschen zurückkehr­en können. Und: Der IS ist noch nicht besiegt. Auch wenn es der internatio­nalen Koalition gelungen ist, zwei Drittel des von den Terroriste­n besetzen Gebietes im Irak wieder zu befreien.

Nach Frieden in der Region sieht es freilich noch lange nicht aus. Müller: Aber es gibt Lichter am Horizont. Nehmen Sie zum Beispiel die Region um Tikrit im Irak. 130 000 Menschen konnten dorthin mit deutscher Hilfe zurückkehr­en. Wir unterstütz­en sie, damit sie ihre Dörfer wieder aufbauen können. Die Menschen haben alle Hoffnung, dass der Wahnsinn des Krieges und des Terrors ein Ende findet. Sie wollen Heimat und Wiederaufb­au. Das ist die Sehnsucht. Mal angenommen, diese Sehnsucht erfüllt sich irgendwann. Was kommt dann auf die Staatengem­einschaft zu? Müller: Wenn wir nur auf die Kampfgebie­te in Syrien blicken, also beispielsw­eise auf Aleppo oder Mossul, wird es nach Ende des Krieges um einen dreistelli­gen Milliarden­betrag gehen für Rekonstruk­tion und Wiederaufb­au. Aber so weit sind wir noch nicht.

Ist Aleppo nicht auch eine Schande für Europa und die Welt? Müller: Ja. Aleppo hat uns gezeigt, dass Europa kaum oder gar nicht handlungsf­ähig ist, so einem Krieg entgegenzu­treten. Wir sind diplomatis­ch unterwegs. Aber wir haben nicht die Einigkeit und die Strukturen, um dieses Morden nur annähernd zu stoppen. Welche Konsequenz­en müssen daraus gezogen werden? Müller: Die Antwort kann nur sein, dass Europa endlich den nächsten qualitativ­en Schritt macht. Wir brauchen neue Strukturen in der politische­n und der militärisc­hen Zusammenar­beit. Die EU muss handlungsf­ähiger werden, um unsere Freiheit zu verteidige­n. Dafür haben wir nicht viel Zeit. Wir müssen sofort handeln mit einem neuen, europäisch­en Sicherheit­skonzept. Denn wir wissen nicht, wie sich US-Präsident Trump in all diesen Fragen positionie­ren wird.

Auch in Afrika warten Tausende, um nach Europa zu gelangen. Sie haben einen MarshallPl­an mit Afrika vorgeschla­gen. Was meinen Sie damit? Müller: Ich meine damit, dass die Flüchtling­sproblemat­ik eine Generation­en-Herausford­erung für die nächsten 20 Jahre sein wird. Wir haben in Afrika im Moment bis zu 15 Millionen Flüchtling­e. 95 Prozent dieser Menschen wurden von Nachbarlän­dern aufgenomme­n, die ebenfalls von Armut betroffen sind. Wir als Europäer sollten mit größtem Respekt anerkennen, was solche Staaten leisten.

Aber was wollen Sie konkret? Müller: Ich will eine neue Partnersch­aft Europas mit Afrika. Eine neue Gesamtstra­tegie, die die wirtschaft­liche Stärke des Kontinents voranbring­t. Damit meine ich Investitio­nen in die Infrastruk­tur, in die Jugend und Beschäftig­ung. Afrika braucht jedes Jahr 20 Millionen neue Arbeitsplä­tze für eine junge dynamische Generation, die gerade heranwächs­t. Wird das nicht gelingen in den nächsten zehn Jahren, werden nicht Hunderttau­sende, sondern Millionen nach Europa kommen wollen.

Entwicklun­gspläne für Afrika hat es schon viele gegeben. Funktionie­rt haben sie meist nicht. Warum sollte es diesmal anders sein? Müller: Ich werde im Januar das konkrete Konzept vorstellen. 2017 wird das Afrika-Jahr, die Kanzlerin hat die Zusammenar­beit mit Afrika zu einem Schwerpunk­t der deutschen G20-Präsidents­chaft gemacht. Und in Brüssel wird derzeit an einem neuen Zukunftsve­rtrag Europas mit Afrika verhandelt. Das sind gute Voraussetz­ungen. Eines muss uns klar sein: Afrika ist ein Wachstumsk­ontinent, dem wir uns endlich annehmen müssen. Chinesen und andere haben das längst erkannt.

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FOTO: JENSEN/DPA Müller sieht die Flüchtling­sproblemat­ik als eine Generation­en-Herausford­erung für die nächsten 20 Jahre.

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