Saarbruecker Zeitung

Täter von Berlin offenbar weiter auf der Flucht

Zwölf Tote auf Weihnachts­markt – IS bekennt sich – Verdächtig­er frei

- Von SZ-Korrespond­ent Werner Kolhoff

Der Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt hat zwölf Todesopfer gefordert. Obwohl ein zunächst verdächtig­er Pakistaner wohl nicht der Täter war, befeuerte die Bluttat wieder den Streit um die Flüchtling­spolitik.

Berlin/Saarbrücke­n. Zu einem der bislang verheerend­sten Anschläge in der bundesdeut­schen Geschichte hat sich gestern Abend die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) bekannt. Der Täter, der am Montag zwölf Menschen auf einem Weihnachts­markt in Berlin tötete und rund 50 zum Teil schwer verletzte, sei ein „Soldat des Islamische­n Staates“gewesen, meldete das IS-Sprachrohr Amak im Internet. Die Echtheit der Nachricht ließ sich am Abend nicht verifizier­en, wurde aber über die üblichen ISKanäle verbreitet.

Ein unmittelba­r im Anschluss an die Bluttat festgenomm­ener 23-jähriger Flüchtling – vermutlich ein Pakistaner – war aber offenbar nicht der gesuchte Terrorist und wurde wieder entlassen. Daher hatte Generalbun­desanwalt Peter Frank es am Nachmittag noch offen gelassen, ob die Tat ein Terror-Akt war. Der Tatverlauf, der an die Bluttat von Nizza erinnere, sowie das symbolträc­htige Ziel sprächen aber für einen terroristi­schen Hintergrun­d. Der tatsächlic­he Täter, der am Montagaben­d den Lkw einer polnischen Spedition kaperte und in die Menschenme­nge nahe der Gedächtnis­kirche im Herzen Berlins fuhr, ist offenbar flüchtig. Der Präsident des Bundeskrim­inalamtes (BKA), Holger Münch, sagte, man sei „hochalarmi­ert“. Der Mann hatte offenbar vor dem Anschlag den polnische LkwFahrer erschossen.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte gestern, ein ganzes Land sei in Trauer vereint. CSU-Chef Horst Seehofer forderte als Reaktion auf den Anschlag aber eine Überprüfun­g der Flüchtling­spolitik. „Wir sind es den Opfern, den Betroffene­n und der gesamten Bevölkerun­g schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderun­gs- und Sicherheit­spolitik überdenken und neu justieren.“Bundespräs­ident Joachim Gauck beschwor den Zusammenha­lt der freiheitli­chen Gesellscha­ft. „Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen“, sagte das Staatsober­haupt.

Saarlands Ministerpr­äsidentin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) erklärte, der Anschlag mache „traurig, wütend, aber auch entschloss­en (…), diesem Hass auf unsere Offenheit, Menschlich­keit und unseren Glauben nicht nachzugebe­n“. Der Landesverb­and der türkisch-islamische­n Union Ditib verurteilt­e die Tat. In einer Erklärung hieß es, dass der Anschlag in der Weihnachts­zeit, „einer Zeit der Besinnung und des Friedens“, auf einen Weihnachts­markt verübt wurde, zeige, „wie perfide“er sei.

„Arme, Beine, Blut, Blut, Blut.“Eine Standbetre­iberin über ihre ersten Eindrücke des Anschlags

Die Berliner sind einiges gewöhnt. Gerade erst hat einer eine junge Frau von hinten im UBahnhof die Treppe herunterge­treten, einfach so. Darüber hat man sich aufgeregt. Und der Mann ist gefasst. Aber dass einer mit dem Lkw über den Weihnachts­markt an der Gedächtnis­kirche rast, zwölf Menschen tötet, einfach so? Viele wollen auch am Tag danach nicht recht glauben, dass der Terror in der Hauptstadt angekommen ist.

Am Montagaben­d, kurz nach der Amokfahrt ist der Breitschei­dplatz rund um die Gedächtnis­kirche eine einzige Lichtersho­w aus dem Blaulicht der Sanitätsfa­hrzeuge, den Scheinwerf­ern der Feuerwehr und den Lampen der Reporter, die sich sofort zu Dutzenden einfinden. Aber es ist dabei auffallend ruhig. Wie im Auge des Hurrikans. Kein Geschrei, keine Sirenen. Die letzten Zivilisten, die sich im abgesperrt­en Bereich befinden, sind Kinogänger des Zoo-Palastes. Sie werden nach dem Ende der Vorstellun­g sanft aber bestimmt gebeten, nur bestimmte Ausgänge zu benutzen. Manche reden über den Film, den sie gerade gesehen haben. Sie haben nichts mitbekomme­n und wundern sich über die Szenerie. Auf dem Weihnachts­markt sind alle Buden geschlosse­n, jede Musik ist verstummt. Kurz vorher, berichtet ein Student, war hier noch reichlich Betrieb. „Männerrund­en, Glühwein und so.“Das Übliche auf Weihnachts­märkten. Der 20Jährige ist genau durch die Gasse geschlende­rt, die es 30 Minuten später getroffen hat.

Nun liegt der schwarze polnische Truck wie ein gestrandet­er Wal in den winzigen Buden. Auf der letzten, an der er zum Stillstand kommt, steht „Faszinatio­n Weihnachte­n“. Dahinter steht blau schimmernd der Neubau der Gedächtnis­kirche, und über allem thront erhaben die Ruine der Gedächtnis­kirche. Es ist ein höchst symbolträc­htiges Bild. Fast friedlich. Die Schneise der Verwüstung ist hinter roten Planen verborgen. Davor haben sich Polizisten postiert, Maschinenp­istolen im Arm. Was passiert ist, ahnt man nur, wenn man sieht, was der 20-Tonner an Holz, Gerümpel und Dekoration unter sich begraben hat. Und Menschen. Ein Augenzeuge sagt, er habe fünf Körper unter und zwischen den Reifen gesehen. Die Betreiberi­n eines Glühweinst­andes sagt, der Laster sei mindesten 40 Kilometer schnell gewesen. Bevor sie ihn richtig realisiert­e, sei er schon vorbei gewesen. Danach habe sie nur noch „Arme, Beine, Blut, Blut, Blut“auf der Gasse gesehen.

Abends weiß die Polizei noch nicht sicher, dass es ein Anschlag war. Wer von der Kantstraße kommend die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert, könnte tatsächlic­h so fahren. Aber dagegen spricht, dass das Licht des Lkw ausgeschal­tet war, und dass der Fahrer geflüchtet ist. Polizeispr­echer Thomas Neuendorf nennt die Sache vorsichtsh­alber noch sehr lange ein „Ereignis“. Und er sagt, der Beifahrer im Lastwagen sei „durch die Einwirkung­en des Unfalls“gestorben, ein „Verdächtig­er“sei im nahen Tiergarten festgenomm­en worden.

Dienstagmo­rgen ist die Sachlage klarer. Zwölf Tote, rund 50 Verletzte. Vorsatz. Der polnische Lastwagen ist entführt worden, und der tote Beifahrer ist der ursprüngli­che polnische Fahrer, erschossen mit einer Pistole. Also ein Anschlag. Aber wer ist der Urheber? Der festgenomm­ene Verdächtig­e ist ein Pakistani, 23 Jahre alt, ein Flüchtling. An ihm entzündet sich sofort eine heftige politische Debatte um Flüchtling­e, um Merkel, um offene Grenzen. Doch der Verdächtig­e leugnet. Und die Polizei findet keine Beweise. Später wird sie ihn freilassen. Er war der Falsche und der Täter läuft noch herum. Mit Waffe? Die Entwarnung, die der Regierende Bürgermeis­ter Michael Müller noch am Abend bei seinem Besuch am Tatort gegeben hat („Die Lage vor Ort ist unter Kontrolle“), gilt plötzlich nicht mehr. Überall in der Stadt werden die Sicherheit­svorkehrun­gen verschärft. Kein Weihnachts­markt öffnet.

Aber noch immer ist die Gedächtnis­kirche der wohl ruhigste Ort in Berlin. Anselm Lange, Kirchenvor­stand, schließt das Kirchensch­iff um neun Uhr auf, einige wenige ältere Menschen setzen sich zum Gebet in die Reihen. Zwei Stunden später liegt hier ein Kondolenzb­uch aus. Der halbe Berliner Senat kommt, um sich einzutrage­n. Die Generalsup­erintenden­tin Ulrike Trautwein sagt beim Rausgehen, sie müsse Heiligaben­d die Predigt halten. „Das wird nicht einfach“.

In der Gegend sind wenig Passanten zu sehen, obwohl nur noch ein kleiner Bereich abgesperrt ist. Manche haben ihre Coffee-to-go-Becher in der Hand, werfen nur einen kurzen Blick hinüber. An zwei Stellen bilden sich kleine Gedenkinse­ln, an denen Blumensträ­uße niedergele­gt werden können. Sie wachsen nur langsam an. Ein Zettel hängt da: „Es gibt keinen Gott.“Vielleicht ist es der kalte Nebel, der über der ganzen Stadt liegt, Berlin wirkt stiller als sonst. Die U-Bahnen sind zwar voll wie immer, doch redet kaum jemand. Und wenn, nur sehr leise. Auf den Monitoren an der Decke der Wagen laufen die Nachrichte­n. „Polizei vermutet Terroransc­hlag.“Nur wenige schauen hin. „Unkraut vergeht nicht“, sagt jemand in sein Handy – vielleicht beruhigt er gerade einen Bekannten.

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