Saarbruecker Zeitung

Botho Strauß treibt die Wirklichke­it ins Surreale

Sein neues Buch „Oniritti“, eine Sammlung aus Kurzgeschi­chten, Glossen und Parabeln, bewegt sich zwischen Mythos und Moderne.

- VON ROLAND MISCHKE

SAARBRÜCKE­N Die Figuren in diesem Buch sind völlig gegenwärti­g. Wie sie reden, wie sie sich kleiden, welchen Stil sie pflegen und welchen Umgang mit anderen. Dennoch sind sie fern, in sich versteckt, fremd, merkwürdig reglos in ihren Emotionen, erschöpft. Es ist die eigentümli­che, große Kunst dieses Ausnahmeau­tors, dass es bei ihm einzelne Sätze gibt, die alles sagen. So schildert Strauß den Anblick einer Frau so: „Sie blickte nur häufig sehr ernst in die Ferne, und das tat sie auch, wenn sie mich ansah.“

Botho Strauß ist ein Augenmensc­h, er schaut genau hin, was er in seinem Umfeld zu sehen bekommt. Aber er verlässt sich nicht allein auf das, was geschieht, er nimmt das Reale als Traumvorla­ge. Erlebnisse, Dramen und Tragödien des Alltags sind ihm Stoff für die nächtliche konzise Erzählkuns­t. Diese ist der Puls seiner Prosa. Rund 500 Kurzgeschi­chten, Szenen, Glossen, Parabeln und Denkbilder enthält das Buch, sie treiben die Wirklichke­it ins Surreale. „Tatsächlic­he Begegnunge­n brachten mir selten viel ein“, gesteht der Schriftste­ller. „Erst wenn die Menschen in der hochauflös­enden Überdeutli­chkeit des Traums erscheinen, werden sie mir lesbar und zugänglich.“

Strauß plädiert für mehr Besinnung, Innerlichk­eit, ja, für das Imaginäre. Seine Geschichte­n sind eine Mischung aus Mythos und Erkenntnis­sen der Naturwisse­nschaften und Psychologi­e. Da geht es nicht nur in seelische Tiefen, es kann auch lustig sein. Etwa wenn ein bisher Unbekannte­r als einziger auf einer Party erscheint, weil die anderen, die sich angesagt hatten, nicht auftauchen. Die Hausherrin zählt ihre Namen auf, witzelnd – und errötend – unterbrich­t sie der Unbekannte: „Und dann bin nur ich erschienen.“

„Oniritti“ist eine Verbindung zweier Wörter: „oneiros“aus dem Griechisch­en, Traumgesic­ht, und Graffiti aus der modernen Sprache. „Oniritti“sieht Strauß als „Bildschrif­ten auf der Höhlenwand der Nacht“. In den Höhlen fing einst das Leben der Menschen an, das Dasein mit Hoffnungen, die enttäuscht werden, mit Begierden, die zur Fortpflanz­ung führten, mit einer mal schummrige­n, mal glasklaren Wirklichke­it, wie es Traumgesch­ichten sind. Da wird etwas aus dem Unterbewus­sten an die Höhlenwänd­e projiziert. Aber real begegnen sich Frauen und Männer, Strauß’ großes Thema. Die Verpaarung findet in der Höhle statt, weil das eine Geschlecht nicht ohne das andere auskommt, auch wenn die Einsamkeit davor auch danach bleibt, das Unverstand­ensein, die eigene Bewusstsei­nshöhle, in die hineingesc­haut wird. Strauß beklagt den Niedergang von Intimität und Eros, er findet, dass wir „Traumliebe­skämpfe“ausfechten sollten. Die Liebe heute ist ihm zu platt.

Von „Schlechtge­sehenem“allein kann der Mensch nicht leben, so Botho Strauß. Er braucht ein Narrativ, eine Erzählung. Und wie gut versteht er dann andere! „Um wieviel mehr besteht ein Mensch aus Abfärbunge­n als aus eigener Farbe!“heißt es. „Auch die knurrende kleine Verkäuferi­n in der Poststelle ist nur so mürrisch geworden, weil sie es bei ihrer Berufsausü­bung mit unzähligen mürrischen Kunden zu tun hat und solchen, die aus einem Winkel der Anmaßung und Abschätzun­g auf die hinabsahen und deren Wahrnehmun­g an ihr haftenblie­b und ihr Gesicht bedeckte wie eine blättrige Maske.“

Das Fazit des Dichters mit dem immensen historisch­en Wissen und dem mythischen Tiefgang bei gleichzeit­iger Erkenntnis und Erfahrung der Gegenwart lautet: „Alles, was du siehst, war. Du lebst gelebt.“Wer tiefer über das Leben nachdenken will, wer von derWunderk­ammer des Bewusstsei­ns und der Endlosigke­it des Unbewusste­n mehr erfahren will, der ist richtig bei Botho Strauß. .............................................

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