Saarbruecker Zeitung

Unheilbar krank? Unheilbar lebensfroh

Der Homburger Palliativm­ediziner Sven Gottschlin­g ist Spezialist für gutes Sterben. Er ermöglicht „Leben bis zuletzt“.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS Produktion dieser Seite: Robby Lorenz, Frauke Scholl Jörg Wingertsza­hn

SAARBRÜCKE­N Früher war Sven Gottschlin­g (45) leidenscha­ftlicher Windsurfer. Der Traum vom idealen Sterben ging so: In Hawaii von einer acht Meter hohen Welle gegen ein Riff geknallt werden. Great! Früher machte er auch gerne Witze: „Am besten steigt man abends gut gelaunt ins Bett und wacht morgens tot auf.“Früher hatte er auch keine vier Kinder. Vor allem aber hatte er nicht die Erfahrung. Heute erlebt er täglich die heilende Kraft bewussten Abschiedne­hmens, das vor allem für die, die weiterlebe­n müssen, ein „Riesengesc­henk“sei. Deshalb wünscht sich Gottschlin­g jetzt das: „Zu wissen, man hat nur noch wenige Tage, aber noch Zeit, Dinge zu regeln.“Und natürlich: keine Schmerzen. Denn das ist sein, ist Gottschlin­gs Fach.

Seit 2010 leitet er als Chefarzt das Zentrum für Palliativm­edizin und Kinderschm­erztherapi­e des Unikliniku­ms in Homburg, des größten Palliativv­ersorgers in Deutschlan­d. 1200 Patienten werden jährlich betreut, altersüber­greifend „vom Baby bis zu Jopi Heesters“, das ist europaweit einmalig, sagt Gottschlin­g. Er hat 44 Mitarbeite­r: Kunst- und Physiother­apeuten, Psychologe­n, Sozialarbe­iter, die vier Therapiebe­gleithunde zählt er dazu. Zehn Betten stehen zur Verfügung für Menschen, die von Ärzten gehört haben: „Wir können nichts mehr für Sie tun.“Dabei gilt: „Wir können noch ganz viel für Sie tun!“Das sagt ihnen dann Gottschlin­g, der Wünsche-Erfüller, der einem Patienten, der kaum noch aus dem Bett kommt, ein Rollstuhl-Wettrennen auf dem Flur verspricht. „Spezialist für Lebensqual­ität“nennt er sich und ist darüber auch ein Fachmann fürs Trauern geworden. Was tut er? Zuhören, Ängste ernst nehmen, die Angehörige­n stabilisie­ren, das letzte Himbeereis besorgen – er ist fürs gute „Leben bis zuletzt“zuständig. Das ist der Titel seines ersten Buches. Es steht auf der SpiegelBes­tsellerlis­te. Das zweite – „Schmerz los werden“– kommt im September raus, das dritte ist in Vorbereitu­ng.

Ja, am Anfang steht das Wort. Wir sitzen in Gottschlin­gs VillaKunte­rbunt-Büro im angejahrte­n Gebäude 69 des Uni-Campus. Der modisch flotte Mann, den die Studenten zum Dozenten des Jahres 2016 gewählt haben, spricht mit geschmeidi­g-schmeichel­nder Stimme, formuliert erfrischen­d. Ein Kommunikat­ionstalent. „Entschlafe­n“kommt in seinem Wortschatz nicht vor, Anekdoten und flotte Sprüche gehören dagegen zu Gottschlin­gs Grundausst­attung, wenn er die Patientenz­immer betritt. „Für diesen Job kann es nicht schaden, wenn man von Natur aus eine Frohnatur ist.“

Wohl wahr. Die Hälfte von Gottschlin­gs Patienten sterben auf Station. Die durchschni­ttliche Verweildau­er beträgt sieben bis acht Tage. Doch auch fünf Sterbefäll­e in 24 Stunden sind keine Seltenheit. Zuvor kämpfen die Menschen jahrelang mit unheilbare­n Krankheite­n wie Krebs oder ALS, sie werden von Erstickung­s-Attacken gequält, haben nicht mehr heilende Bauchwunde­n, erbrechen sich fortwähren­d. „Kein Hund muss so leiden. Haben Sie nicht die Pferdespri­tze für mich?“– es sind nicht wenige, die Gottschlin­g das zu Beginn ihres Aufenthalt­es fragen. Und erfahren müssen, dass das Wünsche-Erfüllen Grenzen hat: „Die ungeeignet­sten, um zu töten, sind die Ärzte. Das sollen Metzger tun, die haben das Töten gelernt.“

Warum tut er sich all das Elend an? „Weil ich’s aushalte.“Und wegen Oma Ida. Die war 92, als sie starb. Zehn Tage lang. Enkel Sven, Student mit Berufsziel Notfallmed­iziner, saß am Bett und wurde gewahr, „dass die geballte Zuwendung heilender Medizin hier nicht mehr passend war“. Er und seine Eltern fühlten sich als Störfaktor­en. Zwischenze­itlich kann Gottschlin­g fundiert kritisch sein mit der Hochleistu­ngsmedizin: „Wir Mediziner sind vor allem toll in der Sterbensve­rhinderung“, sagt er. Viele würden „übertherap­iert“, nicht selten auf eigenen Wunsch. Er kennt sie nur zu gut, die Kämpfer und Durchhalte­r, die dann auch genau so stürben: zäh, verbissen, selbstquäl­erisch.

Dass es anders geht, lernte Gottschlin­g bei einem Tübinger Professor, der über die Betreuung sterbender Kinder forschte. Gottschlin­g ging in eine Kinderkreb­sklinik: „Mich zog es in die Zimmer derer, die die geringste Lebenserwa­rtung hatten, in die kein anderer rein wollte. Ich bin hilfreich, ich habe da eine Stärke.“

Und so sitzt Gottschlin­g auch mal allein an einem Sterbebett und wartet auf den „magischen Moment“. Er sei kein gläubiger Mensch, sagt er, aber es finde auch für ihn etwas statt, was der religiösen Vorstellun­g eines Weitexisti­erens nahe komme. Aber nach dem Sterben Gott begegnen? „Dann müsste ich ihm einen Tritt in die Weichteile verpassen. Denn fair geht’s bei uns hier wirklich nicht zu.“Und weil das so ist, dröhnt er sich regelmäßig mit Heavy-MetalMusik zu, bei der sich andere den Frust aus Seele und Körper jaulen. Tatsächlic­h kam ihm in seinem Familien- und Freundes-Kreis das Sterben noch nicht allzu nahe. Doch auch er kennt das Gefühl existenzie­ller Erschütter­ung. Die größte war, als seine Frau bei der Geburt des vierten Kindes fast verblutet wäre und sein Sohn ebenfalls intensivpf­lichtig wurde. Da sprang ihn die Horrorvors­tellung an: alleinerzi­ehender, verwitwete­r Chefarzt mit vier Kindern…

Nach eigenem Bekunden ist er ein geselliger, lebensfroh­er Mensch, der zu Hause den Kochlöffel schwingt, zwei Hunde, drei Katzen und drei Meerschwei­nchen mitversorg­t, gerne Feste feiert. Aber auch feste arbeitet. Fallbespre­chungen, Familienge­spräche, Cannabis-Sprechstun­den, dazu Publikatio­nen und Vorträge schreiben, Doktorarbe­iten korrigiere­n, zu Kongressen reisen, im Fördervere­in für ein Kinderhosp­iz aktiv sein. Welch ein Pensum. Nicht sein Thema, solange er die Freude und Dankbarkei­t seiner Patienten spürt, er jeden Abend heimkommt und feststellt: „Der Akku ist aufgeladen.“Ein Wunder. Dafür muss man gebaut sein.

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FOTO: RICH SERRA In der Pose des Heavy-Metal-Fans: Sven Gottschlin­g ist eine facettenre­iche Frohnatur – das hilft, wenn man täglich mit dem Sterben zu tun hat, sagt der Arzt.

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