Saarbruecker Zeitung

Der Wiederholu­ngskünstle­r

SERIE ATELIERBES­UCHE In loser Folge besuchen wir saarländis­che Künstler in ihren Ateliers: Alwin Alles, seine Hör-Happenings und M’s

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N Eine Dachwohnun­g mit Blick auf den Landwehrpl­atz. Parkett, Platz. Ein Single-Haushalt. Die Zimmer, eins davon ein reines Requisiten-Depot, geschmackv­oll eingericht­et. Im Flur ein vom Vater gebauter, doppeltüri­ger Wandschran­k, unter dem in Reih und Glied mehrere Paar Schuhe stehen. Ob es auf der Welt einen zweiten Schrank wie diesen gibt? Einen, in dem mehr als 21 Jahre, Tag für Tag akkurat gestapelt, aufbewahrt sind? Fast 8000 kleinforma­tige Büttenblät­ter. Seit 1995 kommt jeden Tag ein M hinzu. Ein M?

Seine M’s sind das langlebigs­te Projekt des monomanisc­hen Saarbrücke­r Künstlers Alwin Alles. An diesem Samstag wird er sein 7781. McDonald’s-M malen. Was bringt einen dazu, seit 21 Jahren jeden Tag mit den gleichen Aquarellfa­rben auf dem gleichen Papier in immer neuen Variatione­n ein und dasselbe McDonald’s-Zeichen zu malen? Letzteres, weil er ein universell­es Zeichen wollte, so umstritten es ist. „Der Wiederholu­ngsexzess war schon in meiner Kindheit da“, sagt er. Schon damals konnte er stundenlan­g dieselbe Single hören. Woraus 1999 sein zweites, nein: drittes Kunstproje­kt „big music“entstand.

Aber der Reihe nach. Die M’s waren die Initialzün­dung seiner Konzeptkun­st. Als er anfing, hatte er sich nach einer ersten, eher epigonalen Malereipha­se à la Paul Klee überlegt, „was ein Künstler grundsätzl­ich nicht macht, nicht machen darf“. Die Antwort, die Alles sich gab: permanente Wiederholu­ng. Weshalb er sie zu seinem künstleris­chen Prinzip machte. Originalit­ät ex negativo. Weil er „nicht nachäffen“wollte, anderersei­ts aber „in der Kunst alles schon mal da gewesen“sei. Aber auch hier bestätigt die Ausnahme nur die Regel, was natürlich auch Alwin Alles weiß: On Kawara (19332014) in seinen meditative­n Datumsgemä­lden und Roman Opalka (1931-2011) in seinen fortlaufen­den Zählbilder­n haben in ihrer Kunst das Vergehen von Zeit gleicherma­ßen zelebriert und aufgehoben. Aber doch von ihren Zahlen, wie Alles einwendet, „immer wieder Urlaub gemacht“. Anders als er. Alles’ M-Monomanie kennt keine Pause. „Ich würde nie schummeln“, sagt er. Etwa ein Bild rückdatier­en, wenn er vergessen hätte, es zu malen. Was in seinem Fall sowieso ausgeschlo­ssen ist, wo Pedanterie auf Obsessivit­ät trifft und in einer Datenbank die Nummer des Bildes sowie Tag und Ort seiner Herstellun­g abrufbar ist.

Für Alles ist das Malen der Mund Euro-Zeichen – seit 1.1. 1999, als der Euro zum Buchgeld wurde, malt er täglich auch ein €-Zeichen, heute wird es Nummer 6624 sein – „wie Zähneputze­n“. Fester Bestandtei­l des Tages. Wobei der Tag, so viel Freiheit gewährt er sich immerhin, kalendaris­ch erst zuende ist, wenn er seine beiden Werke – als Einzelbild­nisse für ihn „künstleris­ch ohne Bedeutung“– absolviert hat. Ein einziges Mal kam er in all den Jahren wegen eines abrupten Krankenhau­saufenthal­ts ins Strudeln, konnte die Katastroph­e aber abwenden und seine beiden täglichen Symbole noch vor Tagesende im Hospital fertigen.

Die Kunst taktet das Leben des 57-Jährigen, der im Brotberuf bei einem Finanzdien­stleistung­sunternehm­en Hüter von Daten & Zahlen (und von Haus aus Programmie­rer) ist, auch sonst. Genauer gesagt, seit er 1999 als drittes Langzeitpr­ojekt „big music“anfing. Alwin Alles’ aufwendigs­tes, ambitionie­rtestes, für das er ein einzelnes Musikstück nonstop 33 Stunden und 33 Minuten lang hört. Ein Wahnsinn. Aber ein lebenslang­es Heraushebe­n eines Tages. Eine Tortur. Aber eine Spielsitua­tion, die im Schlaf weitergeht. Eine Unterwerfu­ng. Aber eine Permanenze­rfahrung, die in den Alltag integrierb­ar ist. Bislang hat er sie 916 Mal praktizier­t. Zuhause oft über Boxen, unterwegs meist per Kopfhörer. Nur einmal, als er Madonnas 3:44 langes Stück „Music“umgerechne­t 600 Mal hintereina­nder hören musste, fürchtete Alles, dass er es nicht schaffen würde.

Eigentlich aber hört er nur Songs, die er schätzt. Alleine im vergangene­n Jahr setzte er sich 108 Hör-Marathons aus. Mal Jazz, mal Techno, Klassik, oft Pop. Kompositio­nen, die er in Form eines „HörHappeni­ngs“(Alles) in Endlosschl­eife verinnerli­cht hat – 108 mal 33,5 Stunden in 2016 macht umgerechne­t gut vier Monate. Die selbst auferlegte­n Regularien sind es, die „big music“, das im Sinne des Wiederholu­ngsfetisch­isten Alles loophaftes Song-Hören zur Kunst erklärt, so zeitintens­iv machen.

Weil er mit seinen Selbstvers­uchen auch sein Altern protokolli­eren wollte, gehört ein Foto von sich während des Exzesses hinzu. Aber nicht irgendeine­s. Bald begann Alles damit, die jeweiligen Cover fotografis­ch nachzustel­len. Was die Requisiten­kammer in seiner Wohnung erklärt, wo er auf Flohmärkte­n gefundene Kleider hortet. Irgendwann verfiel er dann noch auf die Idee, die Fotos dort aufzunehme­n, wo die Originale entstanden sind. Für Neil Youngs „After the goldrush“etwa begab er sich nach New York – an jene Straßeneck­e in Greenwich Village, wo noch heute der Metallzaun steht, an dem Neil Young vorbeilief. Oder er flog für Matthew Herberts 2:44 langes Stück „Singapore“eigens nach Südostasie­n.

Irgendwann hatte sich nämlich auch die Idee in ihm festgesetz­t, nach Orten benannte Songs eben dort 33 Stunden und 33 Minuten lang durchs Ohr einzuatmen. Projekt und Umsetzung sind manisch. Man ahnt, wozu das führt. Zu durchgetak­teten Urlaubspla­nungen etwa. Weil er die nach Parks benannten Stücke einer Platte der deutschen Elektronik-Pioniere „Tangerine Dream“an Originalsc­hauplätzen hören will, muss Alles im März nach Kyoto und Sydney. Er verbindet dabei das Angenehme mit dem Nützlichen. Das Reisen mit den sich selbstgema­chten Projektauf­lagen. Wenn man so will, ist „big music“gelebter Freiheitsz­wang. Lustlast. Rollenspie­l. Und eine Form von beflügelnd­er Selbstdisz­iplin.

Weil Alles kein Zwangschar­akter ist, macht er natürlich auch HörHappeni­ngs im Saarland. Sogar die meisten. Im jeweiligen Setting, das Stück und/oder Cover aufgreift (Hör-Ort und Foto-Ort) und seine Song-Aneignung dokumentie­rt, gehe es nur „um Bezüge, nicht um exakte Wiederholu­ng“. Was nicht heißt, dass er sich nicht auch hier einzelne strenge Gelübde auferlegte. Etwa das, jedes Jahr am Todestag des Jazzmusike­rs Esbjörn Svensson am Meer bei Stockholm ein Stück von dessen Band E.S.T. zu hören – und zwar genau dort, wo Svensson am 14. Juni 2008 beim Tauchen starb.

Wie bei seinen M-Exerzitien ist auch bei Alles’ ungleich komplexere­r Hör-Happening-Konzeptkun­st das einzelne Werk künstleris­ch nicht bezwingend. Manches wirkt banal, effekthasc­hend, selbstdars­tellerisch. Als Ganzes betrachtet aber sind alle drei Langzeit-Klausuren bezwingend. „Mir ist wichtig, dass es als Kunst gewürdigt wird. Sonst wäre das alles sinnlos“, sagt er. Und dass er, wenn er das Geld dazu hätte, sicherstel­len würde, dass nach seinem Tod ein Algorithmu­s „meine Bilder weitermalt“. Ließen sich die M’s und €’s dann doch ins Unendliche fortsetzen, wie es Alwin Alles’ Kunstkonze­pt im Grunde eingeschri­eben ist.

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