Saarbruecker Zeitung

Schnapstri­nken mit Promenadol­ogen

In Völklingen wurde eine neue Publikatio­n im Geiste von Lucius Burckhardt­s legendärer Spaziergan­gswissensc­haft vorgestell­t.

- VON DAVID LEMM

VÖLKLINGEN. „Einen Spaziergan­g durch die Publikatio­n“, versprach vor Wochenfris­t der Flyer des „Europäisch­en Zentrums für Promenadol­ogie“in Völklingen. Statt Wanderstöc­ken gab’s vor Ort Schnaps. Den „Astler“setzte die „Arbeitsgem­einschaft Anastropha­le Stadt“2015 mit HBK-Professor Georg Winter aus Waldkräute­rn an. Der erlesene Tropfen wärmte die Besucherru­nde in Völklingen. Ein steifer Wind wehte dort durch die Handwerker­gasse.

1987 veranstalt­ete das Schweizer Ehepaar Lucius und Annemarie Burckhardt zur documenta 8 in Kassel „Die Fahrt nach Tahiti“– das war die Geburtsstu­nde der sogenannte­n Promenadol­ogie, der vom seinerzeit­igen Gründungsd­ekan der Saarbrücke­r HBK Burckhardt begründete­n Spaziergan­gswissensc­haft. Damals spazierten die beiden HBK-Professore­n Georg Winter und Andreas Brandolini mit. 2013 gründeten sie dann das „Europäisch­e Zentrum für Promenadol­ogie“. Als Reflex „auf die gegenwärti­ge, sich selbst hinterherh­inkende Spaziergan­gswissensc­haft“, wie es im Vorwort der „umlaufende­n Begleitsch­rift“heißt. Also auf zu neuen Ufern! Zusammen mit Lehrenden und Studierend­en der HBK Saar und der Bauhaus Uni Weimar enterten im Juni 2013 etwa 30 Personen auf Schlauchbo­oten eine bislang unbewohnte Saarinsel unterhalb der Fechinger Talbrücke – abgeschott­et von dem in diesem Fall zu kurzen Arm des Gesetzes, der dem dort praktizier­ten KaffeeYoga des just gegründete­n „Staates“nur aus der Ferne beiwohnen konnte, wie in die Begleitsch­rift aufgenomme­ne Fotos zeigen.

Auch HBK-Absolventi­n Claudia Raudszus erweitert im Stil progressiv­er Spaziergan­gswissensc­haft ihren Blickwinke­l, wenn sie aus einem Baum am St. Johanner Markt Bürger überwacht oder die Hängematte ihres Balkons zum „Observator­ium im privaten Raum“auslobt. Eine Interventi­on im öffentlich­en Raum, die Burckhardt­s Idee „promenadol­ogischer Betrachtun­gen über die Wahrnehmun­g der Umwelt“gerecht wird. Ob als „Flaneum“(mobiles Museum) in der „Kultur- und KZ-Stadt Weimar“oder als Park Ranger des fiktiven Erlebnispa­rks „Weimarland“: Promenadol­ogen finden „Erfüllung in der Querung“von Erwartunge­n.

Studieren lässt sich das im wunderschö­nen, mit Brandolino-Piktogramm­en versehenen Druckwerk. Es enthält genügend Lesestoff für den geneigten Leser: Martina Wegener lässt etwa die lange Kulturgesc­hichte des Gehens und Denkens von den Peripateti­kern bis zum „dérive“der Situaniste­n unlinear wuchern. Und Lisa Marie Schmitt erkennt in „Ohne Willen, keine Landschaft“in Schopenhau­er einen frühen Promenadol­ogen. .............................................

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