Der immer noch ganz legale Rausch
Täglich sterben etwa 40 Menschen in Deutschland an den Folgen von Alkohol. Neue Recherchen zeigen, wie die Industrie strengere Gesetze verhindert.
BERLIN 60 Milliarden Euro kostet der Alkoholkonsum unsere Gesellschaft pro Jahr. Das hat die Uni Hamburg ausgerechnet. Bier, Wein und Schnaps haben ein vergleichsweise gutes Image. Dabei wissen wir seit Jahrzehnten, dass Alkohol gefährlich ist. „Alkohol ist ein Zellgift und trifft jede Zelle des menschlichen Körpers“, sagt Professor Helmut Seitz, der 1984 als einer der weltweit ersten Wissenschaftler nachgewiesen hat, dass Alkohol Krebs verursachen kann. „Man sagt heute, dass Alkohol über 200 Krankheiten oder Symptome auslösen kann.“Unabhängige Forscher sind sich einig, dass der Konsum drastisch reduziert werden muss. In den vergangenen Jahrzehnten gab es jedoch in Deutschland kaum härtere Regeln.
Seit Sommer 2015 gilt zwar bundesweit ein neues Präventionsgesetz. Darin steht das große Ziel: Alkoholkonsum reduzieren. Was aber nicht im Gesetz steht: Wie? Studien haben gezeigt, was Menschen dazu bringt, weniger zu trinken: höhere Preise, weniger Werbung und kein Alkoholverkauf rund um die Uhr. Wie das umgesetzt werden kann, soll eine Arbeitsgruppe klären.
Mitarbeiter von Correctiv.org und „ZDFzoom“haben diese Arbeitsgruppe in den vergangenen eineinhalb Jahren begleitet. Neben Ärzten, Kassen oder Suchtexperten sitzen auch vier Vertreter von Ministerien in der Arbeitsgruppe: Gesundheit, Familie, Ernährung und Wirtschaft. Die Ministerien haben ein Vetorecht. Solange ihnen etwas nicht passt, gibt es keinen Abschlussbericht. Und die Bundesregierung macht sich offenbar die Interessen der Industrie zu eigen. Die Branche sitzt zwar offiziell nicht mit am Tisch. Dennoch nimmt sie Einfluss auf die Beratungen. Das zeigen Dokumente, zum Beispiel Briefe an das Wirtschaftsministerium. Am 17. September 2015 schreibt der Deutsche BrauerBund. „Uns liegt nunmehr der überarbeitete Entwurf für die sogenannten Gesundheitsziele vor“, beginnt der Brief. Die Brauer wollen den Titel der Gruppe „Alkoholkonsum reduzieren“ändern und strengere Gesetze verhindern. Sie wollen keine neuen Steuern und keine neuen Regeln für den Verkauf von und die Werbung für Alkohol. Einen Tag später wendet sich auch der Bundesverband der Deutschen Spirituosen-Industrie an das Ministerium. Die Lobbyisten freuen sich, dass „einige der im Sommer bereits erörterten Kritikpunkte offenbar aufgegriffen wurden“.
Die Einflussnahme der Industrie scheint erfolgreich zu sein. Denn die Bundesregierung verhindert wenige Monate später in der Arbeitsgruppe tatsächlich härtere Regeln. Interne Schreiben zeigen, dass vor allem das Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium entscheidende Formulierungen der Gesundheitsexperten blockieren.
Auch in anderen Kapiteln hangelt sich die Regierung erstaunlich dicht an den Positionen der Industrie entlang. Während zum Beispiel die Bundesärztekammer eine harte Regulierung von Alkoholwerbung verlangt, setzt das Wirtschaftsministerium voll auf die Selbstkontrolle der Industrie. Experten wie Gabriele Bartsch von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ärgern sich darüber. „Bei uns hat man den Eindruck, dass die Wirtschaft überall sehr dominant ist“, sagt Bartsch. „Und dass die unternehmerischen Interessen doch sehr im Vordergrund stehen.“
Ein Sieg der Lobby? Alle vier beteiligten Ministerien wurden für Interviews angefragt, keines wollte eins geben. Das Gesundheitsministerium teilte schriftlich mit, dass alle Beteiligten Änderungen vorschlagen könnten und die Arbeit am Ziel „Alkoholkonsum reduzieren“noch nicht abgeschlossen sei.