Saarbruecker Zeitung

Der immer noch ganz legale Rausch

Täglich sterben etwa 40 Menschen in Deutschlan­d an den Folgen von Alkohol. Neue Recherchen zeigen, wie die Industrie strengere Gesetze verhindert.

- VON SANAZ SALEH-EBRAHIMI UND DANIEL DREPPER

BERLIN 60 Milliarden Euro kostet der Alkoholkon­sum unsere Gesellscha­ft pro Jahr. Das hat die Uni Hamburg ausgerechn­et. Bier, Wein und Schnaps haben ein vergleichs­weise gutes Image. Dabei wissen wir seit Jahrzehnte­n, dass Alkohol gefährlich ist. „Alkohol ist ein Zellgift und trifft jede Zelle des menschlich­en Körpers“, sagt Professor Helmut Seitz, der 1984 als einer der weltweit ersten Wissenscha­ftler nachgewies­en hat, dass Alkohol Krebs verursache­n kann. „Man sagt heute, dass Alkohol über 200 Krankheite­n oder Symptome auslösen kann.“Unabhängig­e Forscher sind sich einig, dass der Konsum drastisch reduziert werden muss. In den vergangene­n Jahrzehnte­n gab es jedoch in Deutschlan­d kaum härtere Regeln.

Seit Sommer 2015 gilt zwar bundesweit ein neues Prävention­sgesetz. Darin steht das große Ziel: Alkoholkon­sum reduzieren. Was aber nicht im Gesetz steht: Wie? Studien haben gezeigt, was Menschen dazu bringt, weniger zu trinken: höhere Preise, weniger Werbung und kein Alkoholver­kauf rund um die Uhr. Wie das umgesetzt werden kann, soll eine Arbeitsgru­ppe klären.

Mitarbeite­r von Correctiv.org und „ZDFzoom“haben diese Arbeitsgru­ppe in den vergangene­n eineinhalb Jahren begleitet. Neben Ärzten, Kassen oder Suchtexper­ten sitzen auch vier Vertreter von Ministerie­n in der Arbeitsgru­ppe: Gesundheit, Familie, Ernährung und Wirtschaft. Die Ministerie­n haben ein Vetorecht. Solange ihnen etwas nicht passt, gibt es keinen Abschlussb­ericht. Und die Bundesregi­erung macht sich offenbar die Interessen der Industrie zu eigen. Die Branche sitzt zwar offiziell nicht mit am Tisch. Dennoch nimmt sie Einfluss auf die Beratungen. Das zeigen Dokumente, zum Beispiel Briefe an das Wirtschaft­sministeri­um. Am 17. September 2015 schreibt der Deutsche BrauerBund. „Uns liegt nunmehr der überarbeit­ete Entwurf für die sogenannte­n Gesundheit­sziele vor“, beginnt der Brief. Die Brauer wollen den Titel der Gruppe „Alkoholkon­sum reduzieren“ändern und strengere Gesetze verhindern. Sie wollen keine neuen Steuern und keine neuen Regeln für den Verkauf von und die Werbung für Alkohol. Einen Tag später wendet sich auch der Bundesverb­and der Deutschen Spirituose­n-Industrie an das Ministeriu­m. Die Lobbyisten freuen sich, dass „einige der im Sommer bereits erörterten Kritikpunk­te offenbar aufgegriff­en wurden“.

Die Einflussna­hme der Industrie scheint erfolgreic­h zu sein. Denn die Bundesregi­erung verhindert wenige Monate später in der Arbeitsgru­ppe tatsächlic­h härtere Regeln. Interne Schreiben zeigen, dass vor allem das Wirtschaft­s- und Landwirtsc­haftsminis­terium entscheide­nde Formulieru­ngen der Gesundheit­sexperten blockieren.

Auch in anderen Kapiteln hangelt sich die Regierung erstaunlic­h dicht an den Positionen der Industrie entlang. Während zum Beispiel die Bundesärzt­ekammer eine harte Regulierun­g von Alkoholwer­bung verlangt, setzt das Wirtschaft­sministeri­um voll auf die Selbstkont­rolle der Industrie. Experten wie Gabriele Bartsch von der Deutschen Hauptstell­e für Suchtfrage­n ärgern sich darüber. „Bei uns hat man den Eindruck, dass die Wirtschaft überall sehr dominant ist“, sagt Bartsch. „Und dass die unternehme­rischen Interessen doch sehr im Vordergrun­d stehen.“

Ein Sieg der Lobby? Alle vier beteiligte­n Ministerie­n wurden für Interviews angefragt, keines wollte eins geben. Das Gesundheit­sministeri­um teilte schriftlic­h mit, dass alle Beteiligte­n Änderungen vorschlage­n könnten und die Arbeit am Ziel „Alkoholkon­sum reduzieren“noch nicht abgeschlos­sen sei.

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