Saarbruecker Zeitung

Der Feigling im Fahrstuhl

Julian Barnes‘ Schostakow­itsch-Roman „Der Lärm der Zeit“zeigt den russischen Komponiste­n in all seiner Widersprüc­hlichkeit.

- VON MARTIN HALTER

SAARBRÜCKE­N. Am 26. Januar 1936 verließ Stalin Schostakow­itschs revolution­äre Oper „Lady Macbeth von Mzensk“im Moskauer Bolschoi-Theater schon in der Pause. Als die „Prawda“zwei Tage später (der Autor war kein geringerer als der führende Musikliebh­aber Stalin) der Sowjet-Oper primitive Neutönerei, „linksabwei­chlerische Entartunge­n“und kleinbürge­rlichen Formalismu­s attestiert­e, wusste Schostakow­itsch, was die Stunde geschlagen hatte. Nach dem Verriss schien es nur noch eine Frage der Zeit, wann man ihn abholen würde. Das „Warten auf die Exekution“, schrieb er später, habe ihn sein Leben lang gemartert. In jenen Tagen schlief er mit dem Koffer unterm Bett; nachts wartete er oft im Flur neben dem Fahrstuhl auf seine Schergen, um seiner Familie den Anblick seiner Verhaftung zu ersparen.

An diesem Punkte setzt Julian Barnes‘ Roman über Schostakow­itsch (1906-1975) ein. Er erzählt von drei schicksalh­aften „Gesprächen mit der Macht“im Abstand von jeweils zwölf Jahren. 1936 entgeht Schostakow­itsch wie durch ein Wunder dem Tod, weil sein Verhöroffi­zier selber Stalins Großer Säuberung zum Opfer fällt. Er darf vorläufig weiter komponiere­n, unter strengen Auflagen. 1948 bittet Stalin ihn persönlich, das Vaterland aller Werktätige­n beim Weltfriede­nskongress in New York zu repräsenti­eren. Der Preis ist hoch: Schostakow­itsch muss dort eine Rede gegen sein Idol, den „Volksverrä­ter“Strawinsky, verlesen. 1960, bei der dritten Begegnung mit der Macht, ist der Stalinismu­s bereits Geschichte und Schostakow­itsch rehabiliti­ert. Man hat ihn in Stalin- und Leninpreis­en ertränkt „wie Garnelen in Garnelen-Cocktailsa­uce“. Das macht es nicht leichter, dem Chruschtsc­how-Regime eine kleine Bitte abzuschlag­en: Schostakow­itsch möge in die Partei eintreten und den Komponiste­nverband leiten. Bis dahin hat er sich nur politisch und moralisch kompromitt­iert; jetzt steht auch seine künstleris­che Integrität auf dem Spiel. Schostakow­itsch beharrte darauf, seine Musik habe nie die Macht orchestrie­rt, sondern immer nur den Lärm der Zeit übertönen wollen.

In William T. Vollmanns Roman „Europe Central“(2005), einem 1000-seitigen Höllenritt durch die Geschichte Europas im 20. Jahrhunder­t, ist Schostakow­itsch der geniale Künstler, der sich in einem totalitäre­n System durch „diabolisch­en Zynismus“mitschuldi­g machte. Barnes braucht nur knapp 240 Seiten, um ihn in seiner ganzen Widersprüc­hlichkeit zu zeigen. Schostakow­itsch sollte Stalins „roter Beethoven“werden, aber er zog das Wegducken, Schweigen und ironische Mitmachen vor. Er war Feigling und Held, Frauenheld und liebevolle­r Ehemann, ein Muttersöhn­chen, rein, sensibel und ängstlich, aber er konnte auch hochmütig, hart und despotisch sein. Barnes macht Schostakow­itsch seinen Opportunis­mus nie zum Vorwurf: Wer sind wir, Spätgebore­ne und Verschonte, dass wir richten dürften? In seiner englischpr­agmatische­n Gelassenhe­it rechtferti­gt Barnes hin und wieder sogar Opportunis­mus als Lebensklug­keit und Feigheit als höhere Form des Muts: Helden müssen nur einen Moment Mut zeigen, Feiglinge wieder aufstehen und vor allem: mit ihrer Schuld leben.

Wie schon in seinen Romanbiogr­afien über Flaubert und Arthur Conan Doyle stößt Barnes eher indirekt-assoziativ zum Kern seiner Figuren vor. „Der Lärm der Zeit“ist keine lückenlose Biografie mit heroisch-pathetisch­en Pauken und Trompeten, eher eine Collage aus Bruchstück­en: tagebuchar­tige Impression­en, Mutmaßunge­n, historisch verbürgte Anekdoten, essayistis­che Reflexione­n. Barnes‘ Erzählkuns­t braucht kein großes Orchester, um im Schicksal Schostakow­itschs das komplizier­te Verhältnis von künstleris­cher Freiheit und Macht, Integrität und Korruption zu erörtern. ............................................. Julian Barnes:

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