Saarbruecker Zeitung

Die Kraft der Kinderauge­n

Neu im Kino: „Lion – Der lange Weg nach Hause“von Garth Davis nach dem Romanbeste­ller von Saroo Brierley

- Von Martin Schwickert

Der Junge ist aufgewacht. Die Bank ist zu hart. Es ist schon dunkel und der Bahnsteig leer. Der große Bruder lässt auf sich warten. Müde steigt Saroo (Sunny Pawar) in einen Zug auf dem Abstellgle­is, macht es sich in einem Abteil bequem und nickt wieder ein - eine schlaftrun­kene Fehlentsch­eidung, die das Leben des Fünfjährig­en für immer verändern wird.

Denn als der Junge aufwacht ist der leere Zug schon längst in voller Fahrt und kommt erst mehr als 1500 Kilometer von seinem Heimatort entfernt in Kalkutta wieder zum stehen. Verzweiflu­ng und abgrundtie­fe Verlassenh­eit spiegeln sich in den Augen des Jungen, aber bald auch ein Funken Abenteuerl­ust. Trotz seines zarten Alters hat Saroo ein gewisses Selbstvert­rauen, erkennt Gefahren und folgt seinem Gefühl, wenn nachts plötzlich die Kinderfäng­er am Bahnhof auftauchen oder die nette Frau, die ihn aufnimmt, einen noch netteren Onkel mit zwielichti­gen Absichten einlädt.

Schließlic­h landet Saroo in einem Waisenhaus und hat Glück: Er wird von einem australisc­hen Ehepaar (Nicole Kidman/David Wenham) adoptiert und beginnt in einer ihm vollkommen unbekannte­n Welt ein neues Leben.

Es ist dem Adoptionsd­rama „Lion“von Garth Davis hoch anzurechne­n, dass es sich auf die Welt der Herkunft seines Protagonis­ten gründlich einlässt. Was andere mit einer Hand voll markanter Rückblende­n abhandeln würden, dem widmet Davis die ganze erste Hälfte des Filmes. Diese Reise in die Verlorenhe­it eines Kindes entwickelt ihre enorme Kraft, weil sich der Film ganz auf die Perspektiv­e des Fünfjährig­en einlässt und der Kraft der Kinderauge­n mehr traut als großen Erläuterun­gsdialogen.

Dem gegenüber muss der zweite Teil des Filmes, in dem sich der erwachsene Saroo (Dev Patel) auf die Suche nach seinen Wurzeln macht, zwangsläuf­ig abfallen. „Lion“ beruht auf wahren Begebenhei­ten und dem Buch „A Long Way Home“von Saroo Brierley, der es tatsächlic­h geschafft hat nach einem viertel Jahrhunder­t seine leibliche Mutter ausfindig zu machen.

Davis inszeniert dieses berührende Reality-Märchen ganz ohne emotionale Drosselung­smanöver und lässt in melodramat­ischem Hindernisl­auf und Wiedersehe­nseuphorie kein Zuschauera­uge trocken. (Aus/USA/GB 2016, 120 Min., Camera Zwo Sb, Regie: Garth Davis; Buch: Luke Davis)

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