Die Kraft der Kinderaugen
Neu im Kino: „Lion – Der lange Weg nach Hause“von Garth Davis nach dem Romanbesteller von Saroo Brierley
Der Junge ist aufgewacht. Die Bank ist zu hart. Es ist schon dunkel und der Bahnsteig leer. Der große Bruder lässt auf sich warten. Müde steigt Saroo (Sunny Pawar) in einen Zug auf dem Abstellgleis, macht es sich in einem Abteil bequem und nickt wieder ein - eine schlaftrunkene Fehlentscheidung, die das Leben des Fünfjährigen für immer verändern wird.
Denn als der Junge aufwacht ist der leere Zug schon längst in voller Fahrt und kommt erst mehr als 1500 Kilometer von seinem Heimatort entfernt in Kalkutta wieder zum stehen. Verzweiflung und abgrundtiefe Verlassenheit spiegeln sich in den Augen des Jungen, aber bald auch ein Funken Abenteuerlust. Trotz seines zarten Alters hat Saroo ein gewisses Selbstvertrauen, erkennt Gefahren und folgt seinem Gefühl, wenn nachts plötzlich die Kinderfänger am Bahnhof auftauchen oder die nette Frau, die ihn aufnimmt, einen noch netteren Onkel mit zwielichtigen Absichten einlädt.
Schließlich landet Saroo in einem Waisenhaus und hat Glück: Er wird von einem australischen Ehepaar (Nicole Kidman/David Wenham) adoptiert und beginnt in einer ihm vollkommen unbekannten Welt ein neues Leben.
Es ist dem Adoptionsdrama „Lion“von Garth Davis hoch anzurechnen, dass es sich auf die Welt der Herkunft seines Protagonisten gründlich einlässt. Was andere mit einer Hand voll markanter Rückblenden abhandeln würden, dem widmet Davis die ganze erste Hälfte des Filmes. Diese Reise in die Verlorenheit eines Kindes entwickelt ihre enorme Kraft, weil sich der Film ganz auf die Perspektive des Fünfjährigen einlässt und der Kraft der Kinderaugen mehr traut als großen Erläuterungsdialogen.
Dem gegenüber muss der zweite Teil des Filmes, in dem sich der erwachsene Saroo (Dev Patel) auf die Suche nach seinen Wurzeln macht, zwangsläufig abfallen. „Lion“ beruht auf wahren Begebenheiten und dem Buch „A Long Way Home“von Saroo Brierley, der es tatsächlich geschafft hat nach einem viertel Jahrhundert seine leibliche Mutter ausfindig zu machen.
Davis inszeniert dieses berührende Reality-Märchen ganz ohne emotionale Drosselungsmanöver und lässt in melodramatischem Hindernislauf und Wiedersehenseuphorie kein Zuschauerauge trocken. (Aus/USA/GB 2016, 120 Min., Camera Zwo Sb, Regie: Garth Davis; Buch: Luke Davis)
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