Fasten und verzichten ist heute wichtiger denn je
LEITARTIKEL
In allen großen Weltreligionen gibt es eine Phase, in der die Gläubigen fasten. Im Christentum sind das seit dem 5. Jahrhundert die Wochen von Aschermittwoch bis Ostern. Auch wenn in einer säkularisierten Welt die Kirchen immer leerer werden, scheint die Faszination des Fastens und Verzichtens ungebrochen. Umfragen zufolge wollen rund 60 Prozent aller Bundesbürger in der Fastenzeit etwas sein lassen, das sie im normalen Leben nur schwer entbehren können. Das reicht vom Autofasten über den Verzicht auf Fernsehen, Alkohol, Rauchen, Computer oder Smartphone bis hin zum Hardcore-Fasten – also das Weglassen fester Nahrung für einige Tage. Aber warum gewinnt das Fasten immer neue Anhänger, obwohl der religiöse Hintergrund kaum noch eine Rolle spielt?
Offenbar scheint die Sehnsucht nach einer Zeit des Innehaltens ein zutiefst menschliches Bedürfnis zu sein. Die großen Religionsgründer wie Jesus oder Mohamed haben das erkannt und eine Zeit der Besinnung in das spirituelle Leben der Gläubigen eingebaut. Sinn und Sein des menschlichen Lebens sollten hinterfragt werden – bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Tod, nachdem im Karneval das körperliche Wohlleben im Vordergrund stand. Besonders in einer Zeit der Reizüberflutung, in der wir leben, wird dieses Bedürfnis stärker. Durchgeplant bis in die Freizeit, mit Smartphone und Tablet bewaffnet schwimmen wir in einem Informationsstrom, in dem wir zeitweise unterzugehen drohen.
Materielle Not kennen die meisten von uns nicht. Im Gegenteil: Es werden in Deutschland pro Jahr elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Wert von 25 Milliarden Euro weggeworfen. Alkohol ist an jeder Ecke für kleines Geld zu haben. Auch im Urlaub wird es immer exotischer und es geht immer weiter weg. Die Bade-Ferien in Thailand, für die allein mehrere Tage An- und Abreise eingeplant werden müssen, gehören inzwischen zum Standard. Beim Autokauf ist Bescheidenheit ebenfalls nicht angesagt. Die großen, geländegängigen Wagen – die so genannten SUV – sind seit Jahren der Renner.
Wenn wundert es daher, dass die Sehnsucht nach einer Entschleunigungsphase immer größer wird? Und immer mehr Menschen den Wunsch haben, einfach loszulassen und die Marionetten-Schnüre, die unser Leben bestimmen, für eine gewisse Zeit zu lösen und auf liebgewonnene Unarten zu verzichten?
Dieses „Nein, danke“ist außerdem nicht nur mit Qualen verbunden, wenn das FeierabendBierchen für einige Wochen durch Wasser ersetzt wird. Am Ende wird man durch ein zutiefst befriedigendes Gefühl belohnt, dass man es ausgehalten hat und stolz auf sich sein kann.
Daher macht das Fasten heute noch mehr Sinn als in den Jahrhunderten zuvor, auch wenn die religiösen Motive in den Hintergrund getreten sind. Der Rückzug aus der Reizüberflutung ist wichtiger denn je. Daher sollten alle Initiativen, die in diese Richtung gehen, unterstützt werden.