Im Streit mit der Türkei hilft Dampfplaudern nicht weiter
LEITARTIKEL
Der eskalierende Streit zwischen der Türkei und mehreren EU-Staaten ist nicht nur deshalb gefährlich, weil die Stimmung leicht aus dem Ruder laufen und zu Gewalt auf den Straßen führen kann. Vielmehr legt die Krise schonungslos offen, wie fragil der demokratische Grundkonsens zwischen Türkei und Europa inzwischen geworden ist. In dieser Zerreißprobe sollten beide Seiten aber auch bedenken, dass ein vollständiger Bruch niemandem hilft.
Zumindest zum Teil sind die Positionen beider Seiten nachvollziehbar. Die Europäer wollen keinen ausländischen Wahlkampf in ihren Ländern – sie haben genug mit den eigenen zu tun. Die Türken wiederum beklagen die teils fadenscheinigen Gründe, mit denen Ministerbesuche in EU-Staaten abgelehnt werden. Wie nicht anders zu erwarten, gibt Präsident Erdogan bei dem Thema rhetorisch Vollgas, um nationalistische Wähler für ein Ja beim Verfassungsreferendum am 16. April zu motivieren. Aber jenseits des Wahlkampfgetöses wissen Türken wie Europäer: Irgendwann müssen sie sich wieder zusammenraufen.
Angesichts wachsender Probleme der türkischen Wirtschaft und der schrumpfenden Zahl europäischer Touristen an türkischen Stränden sind einigermaßen stabile Beziehungen zu Europa für Erdogan wichtig. Zugleich hat die Flüchtlingskrise verdeutlicht, dass Europa zwar über Erdogan schimpfen kann, dann aber doch irgendwie mit ihm zusammenarbeiten muss. Politiker auf beiden Seiten stehen jetzt vor der Aufgabe, die wahlkampfgetriebene Dampfplauderei mit dem nötigen Augenmaß für den Tag danach zu verbinden.
In der Türkei gibt es Ansätze dafür durch eine Art Arbeitsteilung, bei der Erdogan den bösen Mann spielt und Ministerpräsident Yildirim den Besonnenen mimt. Doch Erdogan geht weiter als je zuvor. Indem er den Streit mit Deutschland und den Niederlanden zur Grundsatzfrage stilisiert, weckt er Zweifel an der Zukunft der Beziehungen. Zwar ist der Präsident zu plötzlichen Kehrtwendungen durchaus in der Lage – für ihn dürfte es kein Problem sein, mit den heute als „Faschisten“beschimpften Deutschen und Niederländern bald wieder an einem Tisch zu sitzen. Aber mit seinen Äußerungen über das angeblich „wahre Gesicht des Westens“setzt Erdogan ein grundsätzliches Zeichen: Zwischen der Türkei und Europa, so suggeriert er, herrschen unüberbrückbare Gegensätze. Das werden seine Gesprächspartner so schnell nicht vergessen.
Erdogan macht derzeit viele von ihm selbst erzielte Fortschritte bei der EU wieder zunichte, indem er eine wichtige Weichenstellung zu kassieren scheint: das grundsätzliche Streben der Türkei, Mitglied im demokratischen Europa zu werden – allen Zurückweisungen zum Trotz. Wenn Erdogan dieses Prinzip tatsächlich aufgibt, wird er zwar womöglich beim Referendum im April siegen. Langfristig wird er seinem Land aber eine schwere Niederlage bereiten.