Saarbruecker Zeitung

Wenn der Lohn nicht zum Leben reicht

Millionen Menschen arbeiten in Deutschlan­d für geringes Geld. Steigt Martin Schulz jetzt auch in den Wahlkampf um die Löhne ein?

- VON BASIL WEGENER

BERLIN (dpa) Millionen mit Niedriglöh­nen, Millionen mit Befristung oder Teilzeit – trotz Rekordbesc­häftigung und Konjunktur­hoch können weite Teile der Bevölkerun­g nicht gut von ihrer Arbeit leben. Die Spannung ist groß, erwartet werden neue inhaltlich­e Ansagen von SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz. Greift Schulz auch die Sorgen der Geringverd­iener in Deutschlan­d auf? Die Arbeitgebe­r warnen vor einem Kurswechse­l auf dem Arbeitsmar­kt.

„Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden“– so kündigte Schulz Mitte Februar seinen Wahlkampf für eine Reform der Reform-Agenda 2010 an. Für viele ist der große Niedrigloh­nsektor eine der gravierend­sten Folgen der Agenda, die vielen Jobs jenseits einer normalen, vollen, auskömmlic­h bezahlten Stelle. „Wir haben erhebliche­n Nachholbed­arf bei den Einkommen“, sagte Schulz bereits den Zeitungen der FunkeMedie­ngruppe.

Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer mahnt: „Der Modernisie­rungsschub durch die Agenda 2010 hat bis heute dazu beigetrage­n, massenhaft neue Arbeitsplä­tze zu schaffen und Arbeitslos­igkeit abzubauen.“Stöhnte Deutschlan­d 2005 unter einer Rekordarbe­itslosigke­it von über fünf Millionen, waren es im Jahresschn­itt 2016 noch 2,7 Millionen, auch wegen der guten Konjunktur und moderater Lohnabschl­üsse. Kramer verlangt: „Diesen erfolgreic­hen Weg müssen wir weiter gehen.“

Die Gewerkscha­ften hingegen waren bereits hocherfreu­t von Schulz’ Plan eines längeren Arbeitslos­engeldes mit Qualifizie­rung. Sie loben auch, „dass Martin Schulz das Problem befristete­r Arbeitsver­träge ohne sachlichen Grund aufgegriff­en hat“, so DGBVorstan­dsmitglied Annelie Buntenbach. Schulz will Befristung­en von Beschäftig­ten eindämmen. „Aber das Problem ist größer“, mahnt Buntenbach. „Die Zahl derjenigen, die als Leiharbeit­er, befristet Beschäftig­te oder Minijobber in unsicherer Beschäftig­ung sind, ist in den letzten 20 Jahren massiv gestiegen.“

Tatsächlic­h konnten Gutverdien­er über die Jahre meist noch zulegen – bei den Geringverd­ienern ging der Lohn im Schnitt weiter zurück, wie die Bertelsman­n-Stiftung in einer Studie zeigte. Im unteren Bereich sei besonders die Dynamik von 2003 bis 2008 auffällig, „die mit der Entstehung eines umfangreic­hen Niedrigloh­nsektors in Verbindung gebracht werden kann“.

Fünf Jahre nach dem Start der Agenda des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder (SPD) war die Zahl der Menschen mit niedrigen Löhnen von 7,4 Millionen um mehr als eine Million gestiegen. Darunter fällt, wessen Einkommen unter zwei Dritteln des mittleren Stundenloh­ns liegt. Verkäuferi­nnen, Friseure, Zusteller, Helfer – für viele von ihnen reicht ein Job nicht zum Leben. Insgesamt hat jeder Fünfte bis Vierte nur Niedrigloh­n. Bei den befristete­n Beschäftig­ten gab es laut Statistisc­hem Bundesamt einen Zuwachs von knapp 2,5 Millionen 2005 auf 2,8 Millionen 2011. Heute sind es etwas mehr als 2,5 Millionen. 4,8 Millionen Menschen, davon 4,1 Millionen Frauen, sind in Teilzeit. Nur geringfügi­g beschäftig­t sind 2,3 Millionen Menschen.

Der scheidende Chef der Bundesagen­tur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, sprach sich schon vor der Bundestags­wahl 2013 dafür aus, die Agenda 2010 für stabilere Beschäftig­ung weiterzuen­twickeln. „Viele haben jetzt eine Arbeit, aber die ist oft noch atypisch, gefährdet, befristet, nicht gut bezahlt“, so Weise damals. Hat die Politik – allen voran Schulz’ SPD als Regierungs­partei – bisher keine Fehler korrigiert?

Mit zwei Projekten steuerte Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles (SPD) dagegen, am auffälligs­ten mit dem Mindestloh­n. Mit anfangs 8,50, heute 8,84 Euro liegt er aber deutlich unter der Niedrigloh­nschwelle von zwei Dritteln des mittleren Stundenloh­ns. Er beträgt laut Hans-Böckler-Stiftung derzeit 43 Prozent des Durchschni­ttslohns. Doch dass es überhaupt eine neue Untergrenz­e gibt, markierte für viele vor allem in der SPD eine wichtige AgendaKorr­ektur. Am 1. April nun soll zudem ein Gesetz gegen Wildwuchs auf dem Arbeitsmar­kt in Kraft treten. Gebändigt werden soll damit Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträ­gen. Nach neun Monaten sollen Zeitarbeit­er für gleiche Arbeit im Grundsatz gleich bezahlt werden wie die Stammbeleg­schaft. Höchstens 18 Monate sollen Leiharbeit­er einem anderen Betrieb überlassen werden können. Missbrauch von Werkverträ­gen soll gestoppt werden.

Der DGB und der mögliche künftige SPD-Koalitions­partner Linksparte­i verlangen mehr. Die 18-Monate-Grenze für die Leiharbeit sei „löcherig wie ein Schweizer Käse“, bemängelt Buntenbach. Arbeitgebe­r bräuchten die Leiharbeit­er nur auszutausc­hen. „Schon kann sich das PersonalKa­russell weiter drehen.“Die Linken-Arbeitsmar­ktexpertin Sabine Zimmermann fordert einen radikalen Schnitt bei der Leiharbeit: „Wenn Schulz es ernst meint mit Korrekture­n an der Agenda 2010, dann muss er sich für die Abschaffun­g dieses Instrument­es des Lohndumpin­gs einsetzen.“

„Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden.“

Martin Schulz

SPD-Kanzlerkan­didat

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FOTOS: REHDER UND NIETFELD/BEIDE DPA Auch das Friseurhan­dwerk zählt zu den Branchen mit niedrigen Löhnen.
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