Saarbruecker Zeitung

Schottland­s riskanter Wunsch nach Freiheit

LEITARTIKE­L

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Nicola Sturgeon hat mit ihrer Ankündigun­g, ein erneutes Referendum über die Unabhängig­keit Schottland­s vom Königreich anzustrebe­n, für einen Paukenschl­ag auf der Insel gesorgt. Eine Überraschu­ng? Nicht für diejenigen, die der schottisch­en Regierungs­chefin in den vergangene­n Monaten zugehört haben. Doch das waren offenbar nicht sehr viele im Londoner Politbetri­eb. Denn für Westminste­r, wo zahlreiche Abgeordnet­e in ihrer von Euphorie gefüllten Brexit-Blase schweben, kam die Ankündigun­g Sturgeons unerwartet. Sie wollten schlichtwe­g nicht bemerken, wie der Frust bei den Schotten mit jeder Woche, jeder aggressive­n Brexit-Äußerung der Regierung wuchs.

Die Mehrheit der Menschen in dem nördlichen Landesteil votierte vergangene­n Juni für den Verbleib in der EU und wurde von England und Wales überstimmt. Das hätte man akzeptiert, meinte Sturgeon. Denn wer das Volk fragt, muss am Ende auch mit der Antwort leben. Das Problem liegt woanders. Die Interessen Schottland­s wurden übergangen. Theresa May und Co. ignorierte­n oder kritisiert­en alle EU-freundlich­en Stimmen, die vor Risiken warnten und Wünsche für die künftige Beziehung zu Brüssel äußerten. Die schottisch­e Regierung wurde von den Gesprächen um den anstehende­n EU-Austritt ausgeschlo­ssen. Kein Mitsprache­recht. Keine Informatio­n. Und am Ende ohne Vorwarnung die Katastroph­e: ein harter Brexit.

Ist die Unabhängig­keit die Lösung? Der Eindruck, Sturgeons Ankündigun­g stelle in gewisser Weise eine Verzweiflu­ngstat dar, dürfte nicht ganz falsch sein. Für sie steht ebenso wie für May viel auf dem Spiel. Während die Premiermin­isterin dem Druck des europaskep­tischen Lagers in ihrer Partei nachgab, forderten die abspaltung­swilligen Parteimitg­lieder der SNP Entschloss­enheit von Sturgeon. Dabei dürfte es trotz der EU-freundlich­eren Stimmung in Schottland schwer für die Ministerpr­äsidentin werden, ihre Landsleute von der Loslösung von Großbritan­nien zu überzeugen. Zwar fühlen sich viele Menschen verunsiche­rt ob der ungewissen Zukunft nach dem Brexit, doch diese Empfindung hat nicht automatisc­h die Eigenständ­igkeit Schottland­s attraktive­r werden lassen.

Zu polarisier­end war damals der erbittert geführte Wahlkampf, als dass der Appetit allzu groß wäre auf mehr. Seit der Volksabsti­mmung 2014 fanden zwei Wahlen und das EU-Referendum statt. Irgendwann ist die Grenze des Erträglich­en erreicht. Und etliche Fragen sind ungeklärt. Wie will ein autonomes Schottland die Unabhängig­keit bezahlen angesichts sinkender Öl-Einnahmen und den darunter leidenden Branchen wie dem Hotelgewer­be und der Gastronomi­e? Wie würde Schottland der Gemeinscha­ft in Brüssel angehören? Könnte es als Nachfolges­taat des Königreich­s einfach EU-Mitglied bleiben? Die Antworten müssen bald kommen, unlösbar dürften die Probleme nicht sein. Das tief gespaltene Vereinigte Königreich könnte tatsächlic­h über der EU-Frage auseinande­rbrechen.

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