Saarbruecker Zeitung

Der Chor als Event ohne Smartphone

Was machen Vereine gegen Nachwuchss­orgen? Die „VielHarmon­ie Bliesen“antwortet. SZ-Serie, Teil 2.

- VON CHRISTINE KLOTH

ST. WENDEL Das Chorsterbe­n im Saarland – es verschont auch den Kreis St.Wendel nicht. Doch während in den Nachbarort­en im Laufe der letzten Jahre viele Männerund Kirchenchö­re verschwund­en sind, blüht die „VielHarmon­ie Bliesen“regelrecht auf. 166 Mitglieder zählt der Chor derzeit, darunter 100 Aktive. Die Zahl ist seit Jahren stabil und steigt sogar.

Davon können viele andere Sänger-Gemeinscha­ften derzeit nur träumen. Was machen die Bliesener anders?, hat die SZ gefragt. „Die Chorarbeit bestimmt unser Leben. Für viele von uns ist das Berufung“, antwortet Peter Becker, Referent für Öffentlich­keitsarbei­t der „VielHarmon­ie“.

Wir, das sind die vielen wichtigen Stimmen und der Gründerker­n des Chors: Peter Becker, sein Bruder Thomas Becker und die Schwester der beiden, Andrea Demuth. Mit elf Jahren begann Peter Becker im katholisch­en Kirchencho­r Alsweiler zu singen, später gründete er mit seinen Geschwiste­rn und einer Hand voll Gleichgesi­nnter einen Jugendchor, der in der „VielHarmon­ie“mündete.

Heute sitzen die Geschwiste­r im neunköpfig­en Vereins-Vorstand, der ehrenamtli­ch mit den Chorleiter­n und Helfern das Gros der Chorarbeit erledigt – und singen natürlich mit. Genauso wie insgesamt sechs ihrer Kinder. Sogar Oma und Opa sind seit Bestehen des Chores dabei: als Fördermitg­lieder.

Ein echtes generation­enübergrei­fendes Projekt also, das bei allem Spaß und Idealismus viele Opfer für die Gemeinscha­ft verlangt: „Wir organisier­en unser Leben um Proben, Auftritte und Sitzungen herum. Wenn wir an einem Probentag zu einer Geburtstag­sfeier eingeladen sind, hat die Probe immer Priorität. Danach kommt erst die Feier. Erfolgreic­he Chorarbeit geht nur so“, ist Peter Becker überzeugt.

Sein Bruder Thomas etwa investiere als dreifacher Vater und Vorsitzend­er des Vereins trotz einer strammen Arbeitswoc­he jede freie Minute in die „VielHarmon­ie“: Notar-Termine, Sitzungen des Kreis-Chorverban­des oder notwendige rechtliche Beratungen und Fortbildun­gen für Vereinsvor­stände – die Liste der Verpflicht­ungen ist lang.

Und manchmal ist die Arbeit für die lokale Kultur sehr frustriere­nd. Bedeutet sie doch auch Klinkenput­zen, um private Unternehme­n vor Ort als Sponsor zu gewinnen. Denn nur so kann der Chor – bei einem Mitgliedsb­eitrag von drei Euro im Monat – anspruchsv­olle Auftritte anbieten. „90 Prozent der Firmen antworten nicht, wenn wir sie anschreibe­n. Für Vereine wie den unseren, die an der Heimat, am Wir-Gefühl mitarbeite­n, ist da erschrecke­nd wenig Wertschätz­ung“, klagt Becker.

Die Wertschätz­ung – sie kommt aber von den Konzert-Besuchern, die mittlerwei­le aus einem sehr großen Einzugsgeb­iet kommen. Was die Gründer-Geschwiste­r leben – Sinn für Familie und das überzeugte Eintreten für den Gesang ohne Wenn und Aber – tragen die mehr als 100 aktiven Mitglieder weiter. „Zu uns kommt man nicht nur und singt und geht wieder. Unsere Proben sind ein soziales Event ohne Smartphone“, schildert Becker.

Die Sänger finden das, was im hektischen Alltag häufig nicht mehr selbstvers­tändlich ist: Man steht zusammen – und interessie­rt sich einfach mal ein paar Minuten füreinande­r. „Die Leute fühlen sich angenommen. So sind bei uns schon viele Bekanntsch­aften, Freundscha­ften und sogar Ehen entstanden“, erzählt Becker. Ein familiärer Zusammenha­lt, den der Gemischte Chor der „VielHarmon­iker“jedes Jahr noch mit Wanderunge­n, Grillfeste­n und einem gemeinsame­n Ausflug stärkt: Dann geht es zu einem dreitägige­n Probenwoch­enende in eine Jugendherb­erge – Omas, Opas oder Ehepartner, die nicht im Chor singen, inklusive.

Missionari­scher Eifer und eine gewisse Besessenhe­it, was das Singen anbelangt, würden aber bei den „VielHarmon­ikern“auf Dauer nicht ausreichen, um Mitglieder zu werben und zu halten. Der Schlüssel des Erfolgs scheint vielmehr darin zu liegen, dass der „Fanatismus“, von dem Peter Becker spricht, alles andere als kopflos ist: Das Nachwuchs-Konzept des Chores ist durchdacht generation­enübergrei­fend. Die jüngsten potenziell­en späteren Mitglieder führt Andrea Demuth im Musikgarte­n-Projekt schon im Alter zwischen zwölf Monaten und vier Jahren an das Singen und an Klanginstr­umente heran. Später können diese Kinder zu den „VielHarmon­ie-Zwergen“(vier bis acht Jahre) und den „Jungen VielHarmon­ikern“(ab neun bis zwölf Jahre) wechseln, um schließlic­h im Gemischten Chor mitzusinge­n.

Und während manch Jugendlich­er das Singen in der Pubertät uncool findet und damit aufhört, haben die ersten NachwuchsS­änger mittlerwei­le bei der „VielHarmon­ie“das komplette Programm von klein auf durchlaufe­n. „Sie können was“, lobt Becker – und das Wichtigste: Sie bleiben am Ball.

 ?? FOTOS: BECKER ?? Musiklehre­r und Chorleiter Christoph Demuth begleitet den Nachwuchs aus Bliesen. Einige der Jungs und Mädchen singen von kleinauf und können später in den Gemischten Chor wechseln.
FOTOS: BECKER Musiklehre­r und Chorleiter Christoph Demuth begleitet den Nachwuchs aus Bliesen. Einige der Jungs und Mädchen singen von kleinauf und können später in den Gemischten Chor wechseln.
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Peter Becker, Chor-Mitglied aus Bliesen

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