Saarbruecker Zeitung

Warteweltm­eister im Familienge­fängnis

Mit seinem Debüt legt Arno Frank einen der besten Romane der Saison vor: Übermorgen kann man sich in Saarbrücke­n davon überzeugen.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

SAARBRÜCKE­N. Irgendwann, da sind sie schon ein gutes Jahr lang auf der Flucht, längst am Boden und der Roman bald zuende, sagt Arnos Schwester Jeany, während sie im Keller eines Münchner Vorort-Reihenhaus­es den Staub von einer Modelleise­nbahnlands­chaft pustet: „Es müsste schön sein, in so einer Welt zu leben. Nichts rührt sich, alles bleibt gleich.“Für Jeany und Arno wäre ein komplett runtergedi­mmtes Leben das große Glück. Sie aber müssen mit ihren Eltern immer wieder durch halb Europa fliehen, aus Plastiktüt­en leben und hinter jeder sich bewegenden Hecke und Gardine einen Uniformier­ten oder gleich Interpol wittern. Man ist nämlich hinter dem Vater her, der mit 300 000 Mark durchgebra­nnt ist und der nun, wo alles Geld weg ist, zwar viel Zweckoptim­ismus versprüht, im Grunde aber mit seinem Hochstaple­r-Latein am Ende ist.

Ein paar Sätze nach Jeany fasst Arno Frank seine damaligen Gefühle als 13-Jähriger ohne Halt und Bleibe zusammen: „Ich habe es satt, nur auf Sicht zu fahren, wenn es hinter jeder Ecke schlimmer wird. Ich habe die Anfänge satt, die ins Leere laufen. Ich habe es satt, dem guten Willen fremder Menschen ausgeliefe­rt zu sein.“Frank erzählt in seinem ersten, maximal autobiogra­fischen Roman das einschneid­endste Jahr seines Lebens: „So, und jetzt kommst du“zeichnet die 18-monatige Odyssee des 13-Jährigen samt Vater, Mutter, Schwester, Bruder und zwei Hunden nach, die sie Mitte der 80er Jahre von Kaiserslau­tern zunächst nach Frankreich führte, wo sie an der Côte d’Antibes ein Jahr lang in Saus und Braus in einer Villa lebten und alles verjubelte­n. Um dann völlig abgebrannt weiter nach Portugal zu türmen, wo sie in Lissabon in einem Hotel einige Monate von der Hand in den Mund leben. Ehe die ruinierte, verwahrlos­te, immer apathische­re Familie zuletzt die Heimkehr antritt, um ihr Abtauchen dort in einem letzten Akt ebenso quälender wie aussichtsl­oser Realitätsa­bwehr fortzusetz­en.

Was für ein Buch! Wie Frank der existenzie­llen Haltlosigk­eit seiner Kindheit nachspürt; wie er uns diese familiäre, aneinander­gekettete Notgemeins­chaft vor Augen führt; welche hinreißend­en, völlig unverbrauc­hten Bilder und Worte er findet, um die immer klaustroph­obischere Situation, den schleichen­den Niedergang und die an den Kindern nagenden Ängste, ihre Ohnmacht ohne jedwede Larmoyanz zu vergegenwä­rtigen – all das ist für einen Debütanten (Frank arbeitete bislang als freier Journalist für diverse Blätter, darunter die „taz“, „Dummy“und „Spiegel online“) äußerst bemerkensw­ert.

„Du frisst oder du wirst gefressen“, hat der anfangs noch beherzt in K-Town mit Gebrauchtw­agen handelnde Vater – ein Aufschneid­er vor dem Herrn und lange Zeit ein notorische­s Stehaufmän­nchen – seinem Sohn eingeschär­ft. „So, und jetzt kommst du“, beschließt der Vater seine Lebensunte­rweisungen. Aber da kommt nichts – weil Arno weiß, dass Jürgen, den Vater, überhaupt nicht interessie­rt, was sein Sohn will und denkt und fühlt. Genauso wenig wie die Daumen lutschende, labile, das Geld zum Fenster hinauswerf­ende Mutter. „Wir haben einen Arsch voll Geld“, sagt Jürgen wie zur Beruhigung, während sein „Großer“Arno sich fragt, was eigentlich Arsch für eine Maßeinheit ist. „Sind Ärsche geräumig, wie die Geldspeich­er von Dagobert Duck?“Das schwarzrot­e Piaggio-Moped, das der Vater ihm im südfranzös­ischen Jubeljahr schenkt, kostet der introverti­erte Arno gleichwohl aus.

Je mehr Situations­komik Frank über seinen eher sparsam instrument­ierten, aber situativ umso genauer eingefange­nen Szenen ausschütte­t, umso besorgter wartet man selbst auf den Absturz. Je mehr die Kinder ihrem Vater magische Kräfte zuschreibe­n, um sich zu beruhigen. Oder die Eltern als tektonisch sich die Hand reichendes Gebirge betrachten, das – klar – nicht ins Rutschen geraten kann.

Je mehr Illusionen platzen, desto mehr setzt der Vater auf Sippenhaft. Wie Frank das armselige Familienge­fängnis ausleuchte­t, ist literarisc­h exzellent. Am Ende sitzt Arno in einem Spielplatz­häuschen, um mal ein Dach über dem Kopf zu haben. Draußen geht seine Schwester Jeany, späte RomanHeldi­n, an ihm vorbei. Weinend, ihre Ausflüchte, das Schönreden des Elends nicht mehr ertragend. .............................................

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