Saarbruecker Zeitung

In dem Buch „Die radikalisi­erte Gesellscha­ft“werden heutige Selbstwert-Mechanisme­n analysiert.

Ernst-Dieter Lantermann analysiert in seinem Buch „Die radikalisi­erte Gesellscha­ft“heutige Selbstwert-Mechanisme­n.

- VON OLIVER PFOHLMANN

SAARBRÜCKE­N Seien wir ehrlich: Irgendwie erscheint heute alles als unsicher. Ob man morgen noch seinen Job hat. Ob es den Euro noch gibt. Ob man beim nächsten Konzertbes­uch Opfer eines Anschlags wird. Da nützt es wenig, wenn Statistike­r einwenden, dass es wahrschein­licher ist, vom Blitz getroffen zu werden als von einem Terroriste­n. Oder daran zu erinnern, dass frühere Generation­en mit ganz anderen Problemen fertig werden mussten. Was zählt, ist die gefühlte Unsicherhe­it. Die ist extrem hoch. Und wird befeuert: von populistis­chen Politikern, katastroph­ensüchtige­n Medien, Hysterie in den sozialen Netzwerken.

Psychologe­n aber wissen: Wer längere Zeit Unsicherhe­it erlebt, bekommt Probleme. Mut und Selbstwert­gefühl gehen in den Keller, man fühlt sich hilflos und ausgeliefe­rt. Zwar gibt es auch Adrenalinj­unkies, die unsichere Situatione­n regelrecht suchen. Oder Menschen, die vor den Risiken die Chancen sehen. Aber für die meisten ist es ein quälender Zustand. Der dazu führt, dass man sich früher oder später seine eigenen Gewissheit­en schafft.

Eben hier liegt für den Sozialpsyc­hologen Ernst-Dieter Lantermann die Erklärung dafür, warum sich heute mehr Menschen radikalisi­eren. Ob politisch oder im Lebensoder Ernährungs­stil. Veganismus zum Beispiel spielte vor 15 Jahren kaum eine Rolle, heute soll es hierzuland­e schon fast eine Million Veganer geben. Warum aber ist es, um bei diesem Beispiel zu bleiben, für immer mehr Menschen attraktiv, auf Fleisch und Tierproduk­te zu verzichten? Ethische oder gesundheit­liche Gründe allein sind es nicht, glaubt der emeritiert­e Kasseler Psychologi­eprofessor. Lantermann unterstell­t einen psychologi­schen Prozess: den Versuch, in einem immer komplexere­n Leben wieder Sicherheit und Überschaub­arkeit zu gewinnen. Plötzlich weiß man wieder, was richtig und falsch ist, hat sogar das gute Gefühl, dazu beizutrage­n, die Welt besser zu machen. Man erlebt endlich wieder Sinn im Leben. Und ebenso – zusammen mit anderen Veganern – das Gefühl von Gemeinscha­ft. Das alles führe dazu, dass die zuvor gefühlte quälende Unsicherhe­it verschwind­et und das Selbstwert­gefühl wieder steigt, glaubt Lantermann.

Neben dem boomenden Veganismus untersucht der Psychologe noch vier weitere Felder, auf denen sich heute „selbstwert­dienliche Radikalisi­erungsphän­omene“zeigen: den Fremdenhas­s, die Körperopti­mierung durch permanente Selbstüber­wachung, den Rückzug in eine imaginiert­e heile Welt oder in geschlosse­ne, bewachte Wohnkomple­xe, den „Gated Communitie­s“. Ausgewählt wurden gerade diese fünf – sehr unterschie­dlichen – Phänomene, um zu zeigen, dass die zugrunde liegenden psychologi­schen Mechanisme­n stets dieselben sind. Das gelingt Lantermann zwar durchaus, trotzdem mutet der Vergleich harmloser AttilaHild­mann-Fans mit Fremdenhas­sern, die Flüchtling­sheime anzünden, etwas bizarr an und Lantermann­s Theorie an dieser Stelle reduktioni­stisch. Mag es auch tatsächlic­h fanatische Veganer geben, die Nicht-Veganer zum Beispiel als Mörder beschimpfe­n.

Wie aus einer bereits radikalen Haltung eine „fanatische“wird, ist einer der von Lantermann untersucht­en Aspekte. Vereinfach­t gesagt geht es dabei um den Unterschie­d zwischen einem PegidaDemo­nstranten und Fanatikern wie den NSU-Terroriste­n, die Fremdenhas­s bis zum Mord auslebten. Ein anderer untersucht­er Aspekt ist der der „Sicherheit­sparadoxie“. Denn auch wenn jede dieser Strategien zunächst ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, WirGefühle stiftet und das Selbstwert­gefühl aufrichtet – dauerhaft funktionie­ren diese Strategien nie: Nicht von ungefähr ist hierzuland­e der Fremdenhas­s dort am größten, wo die wenigsten Migranten leben, in der ostdeutsch­en Provinz.

Auch wenn man sich mehr Fallbeispi­ele und weniger Wiederholu­ngen wünschte: Lantermann­s Buch ist wichtig – weil es zeigt, warum manche mit erlebter Unsicherhe­it besser zurechtkom­men als andere. Schließlic­h gibt es viele, die ungewisse Lebenslage­n als Chance begreifen, das Leben mit neuen Erfahrunge­n anzureiche­rn. Auch zeigt das Buch, welche Ressourcen einzelne vor Radikalisi­erung schützen – aber auch die Zivilgesel­lschaft selbst, die Gefahr läuft, immer weiter in radikale Sub-Milieus zu zersplitte­rn. .............................................

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FOTO: DPA Dies dürfte die extremste vorstellba­re Form der Radikalisi­erung sein, die einzelne, fanatisier­te junge Menschen heute wählen: Kämpfer des Islamische­n Staates (hier eine von 2015 datierende Aufnahme aus Raqqa/Syrien).
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