Der Mann mit der Kraft der zwei Herzen
Der Saarbrücker Jörg Philipp lebt seit 2015 mit einem Spenderorgan und erzählt jetzt in Schulen seine bewegende Geschichte.
SAARBRÜCKEN Die Haustür fliegt auf. Ein durchtrainierter, jugendlicher Mann im knallblauen Poloshirt steht im Türrahmen, die Besucherin noch im Mantel im Wohnzimmer. Start des Informations-Tsunamis: 10 000 totgeweihte Menschen befänden sich in der Wartehölle für ein Organ, berichtet Jörg Philipp (52). Um mehr als 30 Prozent seien die Organspendezahlen seit 2010 gesunken. Er erklärt das anonyme Vergabeverfahren der Organ-Vermittlungsstelle Eurotransplant und betont, dass, selbst wenn ein Mensch einen Organspendeausweis besitzt, die Angehörigen bei der Organentnahme das letzte Wort haben. Ganz nebenbei geht’s auch um ihn selbst, um die Herzschädigungs-Diagnose vor neun Jahren, dass er im November 2014 klinisch tot war, zehn Monate später ein neues Herz bekam, und dass daraus eine Verpflichtung erwachsen ist: offensiv für Organspende zu werben. Philipp engagiert sich im Verein „Infoteam Organspende Saar“(IOS), hat am Montag seinen ersten Auftritt vor Saarbrücker Gymnasiasten, erzählt dort seine Geschichte – „der Kick-off im Regionalverband“. Philipp möchte, dass sich Schulen bei ihm melden, wirbt für mehr, viel mehr Aufklärung.
Der erste Eindruck: Dieser Mann hat nicht ein, er hat zwei neue Herzen. Ein Chefdynamiker, ein Macher, das war er bereits in seinem ersten Leben als Wirtschaftsingenieur, Manager und Geschäftsführer. Nach dem Studium machte er Karriere, jettete um den Globus – viel Verantwortung, noch mehr Termine. Doch er trieb auch viel Sport. Für die Familie – Ehefrau Sylvia (51) und zwei Töchter (20 und 18) – baute er ein schickes Haus auf dem Rastpfuhl, wo er einst aufwuchs. Doch spätestens 2014 lief ein zweiter Lebens-Film an, ein Krimi: „Auf der Jagd nach einer Überlebenschance“. Manch anderer würde die Story allerdings anders, als Horrortrip erzählen: 212 Tage lang war Philipp, „angekettet wie ein Straßenköter“, im größten Herztransplantationszentrum Europas, in Bad Oeynhausen. Ein zentraler Venenkatheter steckte in seinem Hals: Dusche, Toilette, überhaupt Frischluft – unerreichbar. Folter? „Wenn man sterben soll, ist das durchaus eine gute Alternative“, sagt er und nennt diese Phase auf die ihm eigene knackige Art „Boxenstopp“.
Monate zuvor: Husten, Übelkeit, Schlafen war nur noch im Sitzen möglich. Dabei hatte 2008 alles relativ harmlos begonnen, ein Kardiologe stellte bei einer Routineuntersuchung eine Schädigung des Herzens fest, verursacht durch einen Rötelvirus. Die Prognose war nicht wirklich alarmierend, die Medikamentendosis überschaubar, die Einschränkungen erträglich. Fünf Jahre gewährte die Krankheit der Familie Karenzzeit. Dann wurden die arrhythmisch Pumpstöße immer bedrohlicher: „Mein Herz schlug permanent so, als sei ich frisch verliebt.“
2014 der Absturz: sechs Wochen Krankenhaus nach einer Schilddrüsen-OP, zwei Monate später rettete ihm nur der Defibrillator das Leben. Danach lag Philipp im künstlichen Koma. „Davon habe ich mich nicht mehr erholt. Ich wurde ein Schwerstkranker.“Irgendwann pendelte er im Zwei-Tagesrhythmus zwischen Klinik und Zuhause. Eigentlich hätte er 2014 schon ein neues Herz gebraucht. Doch es hieß: „Ihnen geht es schlecht, aber noch nicht schlecht genug, um auf die Liste zu kommen.“Erst recht nicht auf die Hochdringlichkeitsliste, auf der rund 80 Menschen stehen. Die Kriterien sind streng: Man muss zwar schwerst herzkrank sein, aber gesund genug, um nach der Transplantation noch lange leben zu können, im Schnitt 15 bis 18 Jahre. Außerdem müssen Psychologen attestieren, dass man verantwortungsbewusst mit dem kostbaren Geschenk umgeht.
Wer auf der Liste landet, rückt in die Klinik ein. Philipp entschied sich für Bad Oeynhausen. Dort lief dann ein Psychothriller. Das Ziel:
„Das Schlimmste war,
mitzuerleben, dass andere, die später in die Klinik kamen, früher mit
der OP dran waren."
Jörg Philipp
Die Wartezeit überleben, bis das passende Herz mit der passenden Blutgruppe gefunden ist, das weder zu schwer noch zu klein sein darf. „Das Schlimmste war, mitzuerleben, dass andere, die später in die Klinik kamen, früher mit der OP dran waren.“Bei zwei „Kollegen“sei dies der Fall gewesen. Was ihm Halt gab? Sportschau gucken, morgens und mittags eine Stunde Mathematik – Philipp startete ein Fernstudium.
Es lief auf den 200. Tag zu. Montag, 7. September 2015, der diensthabende Arzt gesellte sich beim Länderspiel Schottland-Deutschland zu Philipp ins Zimmer. 30 Minuten nach Spielende kehrte er zurück, mit zwei Pflegern: Auf geht’s! Um sieben Uhr startete die OP, um 12 Uhr war Philipp aus dem Saal wieder raus, um 16 Uhr wach. „Das Erste, was ich spürte, war, dass ich mein Herz nicht mehr spürte und dachte: Das neue ist wie für mich gemacht!“Der Operateur bestätigte: Das Herz sei „rein geflutscht wie handgefertigt“. Philipp meint, diesen Glückspush verkrafte man kaum: Jahrelang krank, fast ein Jahr liegend, und dann über Nacht gesund. Alles längst verarbeitet. Aber wie erlebt er das „Mysterium“, dass ihm das Herz eines Fremden den Lebenstakt vorgibt? Philipp, der Zahlenmensch, hat’s nicht so mit Spiritualität und Sentimentalität: „Das Herz ist nicht Sitz der Seele.“Er sagt, er habe kein schlechtes Gewissen, denn warum er, Philipp, auf der Sonnenseite stehe, und ein anderer dafür habe gehen müssen, auf diese Frage gebe es nun mal keine Antwort. Zweimal hat Philipp den Angehörigen geschrieben, die Klinik leite die Briefe weiter, achte darauf, dass
man nicht etwa Kontakt suche. Philipp erhielt keine Antwort. Es belastet ihn nicht, aber wenn er auf sein Herz hört, sagt es ihm: „Es wäre schön, die Angehörigen in den Arm nehmen zu können.“