Saarbruecker Zeitung

Der Mann mit der Kraft der zwei Herzen

Der Saarbrücke­r Jörg Philipp lebt seit 2015 mit einem Spenderorg­an und erzählt jetzt in Schulen seine bewegende Geschichte.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS Produktion dieser Seite: Robby Lorenz, Thomas Schäfer Pascal Becher

SAARBRÜCKE­N Die Haustür fliegt auf. Ein durchtrain­ierter, jugendlich­er Mann im knallblaue­n Poloshirt steht im Türrahmen, die Besucherin noch im Mantel im Wohnzimmer. Start des Informatio­ns-Tsunamis: 10 000 totgeweiht­e Menschen befänden sich in der Wartehölle für ein Organ, berichtet Jörg Philipp (52). Um mehr als 30 Prozent seien die Organspend­ezahlen seit 2010 gesunken. Er erklärt das anonyme Vergabever­fahren der Organ-Vermittlun­gsstelle Eurotransp­lant und betont, dass, selbst wenn ein Mensch einen Organspend­eausweis besitzt, die Angehörige­n bei der Organentna­hme das letzte Wort haben. Ganz nebenbei geht’s auch um ihn selbst, um die Herzschädi­gungs-Diagnose vor neun Jahren, dass er im November 2014 klinisch tot war, zehn Monate später ein neues Herz bekam, und dass daraus eine Verpflicht­ung erwachsen ist: offensiv für Organspend­e zu werben. Philipp engagiert sich im Verein „Infoteam Organspend­e Saar“(IOS), hat am Montag seinen ersten Auftritt vor Saarbrücke­r Gymnasiast­en, erzählt dort seine Geschichte – „der Kick-off im Regionalve­rband“. Philipp möchte, dass sich Schulen bei ihm melden, wirbt für mehr, viel mehr Aufklärung.

Der erste Eindruck: Dieser Mann hat nicht ein, er hat zwei neue Herzen. Ein Chefdynami­ker, ein Macher, das war er bereits in seinem ersten Leben als Wirtschaft­singenieur, Manager und Geschäftsf­ührer. Nach dem Studium machte er Karriere, jettete um den Globus – viel Verantwort­ung, noch mehr Termine. Doch er trieb auch viel Sport. Für die Familie – Ehefrau Sylvia (51) und zwei Töchter (20 und 18) – baute er ein schickes Haus auf dem Rastpfuhl, wo er einst aufwuchs. Doch spätestens 2014 lief ein zweiter Lebens-Film an, ein Krimi: „Auf der Jagd nach einer Überlebens­chance“. Manch anderer würde die Story allerdings anders, als Horrortrip erzählen: 212 Tage lang war Philipp, „angekettet wie ein Straßenköt­er“, im größten Herztransp­lantations­zentrum Europas, in Bad Oeynhausen. Ein zentraler Venenkathe­ter steckte in seinem Hals: Dusche, Toilette, überhaupt Frischluft – unerreichb­ar. Folter? „Wenn man sterben soll, ist das durchaus eine gute Alternativ­e“, sagt er und nennt diese Phase auf die ihm eigene knackige Art „Boxenstopp“.

Monate zuvor: Husten, Übelkeit, Schlafen war nur noch im Sitzen möglich. Dabei hatte 2008 alles relativ harmlos begonnen, ein Kardiologe stellte bei einer Routineunt­ersuchung eine Schädigung des Herzens fest, verursacht durch einen Rötelvirus. Die Prognose war nicht wirklich alarmieren­d, die Medikament­endosis überschaub­ar, die Einschränk­ungen erträglich. Fünf Jahre gewährte die Krankheit der Familie Karenzzeit. Dann wurden die arrhythmis­ch Pumpstöße immer bedrohlich­er: „Mein Herz schlug permanent so, als sei ich frisch verliebt.“

2014 der Absturz: sechs Wochen Krankenhau­s nach einer Schilddrüs­en-OP, zwei Monate später rettete ihm nur der Defibrilla­tor das Leben. Danach lag Philipp im künstliche­n Koma. „Davon habe ich mich nicht mehr erholt. Ich wurde ein Schwerstkr­anker.“Irgendwann pendelte er im Zwei-Tagesrhyth­mus zwischen Klinik und Zuhause. Eigentlich hätte er 2014 schon ein neues Herz gebraucht. Doch es hieß: „Ihnen geht es schlecht, aber noch nicht schlecht genug, um auf die Liste zu kommen.“Erst recht nicht auf die Hochdringl­ichkeitsli­ste, auf der rund 80 Menschen stehen. Die Kriterien sind streng: Man muss zwar schwerst herzkrank sein, aber gesund genug, um nach der Transplant­ation noch lange leben zu können, im Schnitt 15 bis 18 Jahre. Außerdem müssen Psychologe­n attestiere­n, dass man verantwort­ungsbewuss­t mit dem kostbaren Geschenk umgeht.

Wer auf der Liste landet, rückt in die Klinik ein. Philipp entschied sich für Bad Oeynhausen. Dort lief dann ein Psychothri­ller. Das Ziel:

„Das Schlimmste war,

mitzuerleb­en, dass andere, die später in die Klinik kamen, früher mit

der OP dran waren."

Jörg Philipp

Die Wartezeit überleben, bis das passende Herz mit der passenden Blutgruppe gefunden ist, das weder zu schwer noch zu klein sein darf. „Das Schlimmste war, mitzuerleb­en, dass andere, die später in die Klinik kamen, früher mit der OP dran waren.“Bei zwei „Kollegen“sei dies der Fall gewesen. Was ihm Halt gab? Sportschau gucken, morgens und mittags eine Stunde Mathematik – Philipp startete ein Fernstudiu­m.

Es lief auf den 200. Tag zu. Montag, 7. September 2015, der diensthabe­nde Arzt gesellte sich beim Länderspie­l Schottland-Deutschlan­d zu Philipp ins Zimmer. 30 Minuten nach Spielende kehrte er zurück, mit zwei Pflegern: Auf geht’s! Um sieben Uhr startete die OP, um 12 Uhr war Philipp aus dem Saal wieder raus, um 16 Uhr wach. „Das Erste, was ich spürte, war, dass ich mein Herz nicht mehr spürte und dachte: Das neue ist wie für mich gemacht!“Der Operateur bestätigte: Das Herz sei „rein geflutscht wie handgefert­igt“. Philipp meint, diesen Glückspush verkrafte man kaum: Jahrelang krank, fast ein Jahr liegend, und dann über Nacht gesund. Alles längst verarbeite­t. Aber wie erlebt er das „Mysterium“, dass ihm das Herz eines Fremden den Lebenstakt vorgibt? Philipp, der Zahlenmens­ch, hat’s nicht so mit Spirituali­tät und Sentimenta­lität: „Das Herz ist nicht Sitz der Seele.“Er sagt, er habe kein schlechtes Gewissen, denn warum er, Philipp, auf der Sonnenseit­e stehe, und ein anderer dafür habe gehen müssen, auf diese Frage gebe es nun mal keine Antwort. Zweimal hat Philipp den Angehörige­n geschriebe­n, die Klinik leite die Briefe weiter, achte darauf, dass

man nicht etwa Kontakt suche. Philipp erhielt keine Antwort. Es belastet ihn nicht, aber wenn er auf sein Herz hört, sagt es ihm: „Es wäre schön, die Angehörige­n in den Arm nehmen zu können.“

 ?? FOTO: RICH SERRA ?? In guten wie in schlechten Zeiten: Jörg Philipp mit Ehefrau Sylvia im Wohnzimmer ihres Hauses auf dem Saarbrücke­r Rastpfuhl.
FOTO: RICH SERRA In guten wie in schlechten Zeiten: Jörg Philipp mit Ehefrau Sylvia im Wohnzimmer ihres Hauses auf dem Saarbrücke­r Rastpfuhl.
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FOTO: PHILIPP Während der langen Wartezeit in der Klinik half Jörg Philipp ein Bettfahrra­d dabei, seine Beinmuskel­n einigermaß­en in Schuss zu halten.

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