Saarbruecker Zeitung

„Im Reißwolf zweier Diktaturen“

Natascha Wodins Roman „Sie kam aus Mariupol“hat gestern den Preis der Buchmesse Leipzig gewonnen.

- VON WELF GROMBACHER

SAARBRÜCKE­N Wenn die Lehrerin mal wieder von den Gräueltate­n der Russen erzählt, wie sie während des Zweiten Weltkriegs kleine Kinder mit ihren Stiefeln zertreten hätten, weiß die junge Natascha Wodin schon, dass ihre deutschen Klassenkam­eraden sie nach Schulschlu­ss wieder jagen werden. Kein Wunder, dass sich das 1945 in Fürth als Kind verschlepp­ter sowjetisch­er Zwangsarbe­iter geborene Mädchen von seinen Eltern distanzier­t. Zehn ist Natascha, als die Mutter sich das Leben nimmt. Die ist ihr darum „mehr ein Gefühl als eine Erinnerung“, schreibt Natascha Wodin (71) in ihrem Buch „Sie kam aus Mariupol“, für das sie gestern den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletrist­ik erhielt, dotiert mit 15 000 Euro. Selten lagen die Juroren so richtig.

Bereits ihr Debüt „Die Gläserne Stadt“(1983) nannte Wodin „so etwas wie den Versuch einer Autobiogra­phie“. Damals aber habe sie keine Ahnung gehabt von ihrer Biographie. Das Versäumnis holt sie jetzt nach, indem sie sich auf Spurensuch­e begibt nach der früh verstorben­en Mutter. Immer mehr erfährt sie über die Mutter und deren Verwandte, von denen kaum einer eines natürliche­n Todes gestorben ist. 1944 wird die Mutter von den Nazis deportiert und muss in einem Leipziger Rüstungsbe­trieb des Flickkonze­rns Flugzeuge montieren, die später Bomben über ihren Landsleute­n abwerfen.

Nach der Befreiung durch die Amerikaner wird sie als „Displaced Person“in ein Lager für ehemalige „Ostarbeite­r“eingewiese­n. Zurück in ihre Heimat kann sie nicht. Dort gilt sie als Kollaborat­eurin der Deutschen und muss Arbeitslag­er oder Exekution fürchten. In Deutschlan­d wird sie nie heimisch und nimmt sich das Leben. „Sie war in den Reißwolf zweier Diktaturen geraten, zuerst unter Stalin in der Ukraine, dann unter Hitler in Deutschlan­d.“

Der Roman lässt den Leser betroffen zurück, erzählt er doch mit der sehr persönlich­en Lebensgesc­hichte auch von den 27 Millionen Zwangsarbe­itern, die von den Nationalso­zialisten deportiert wurden, um zu Hause die an der Front kämpfenden deutschen Männer zu ersetzen. 30 000 Zwangsarbe­iterlager gab es in Nazi-Deutschlan­d. Wenig ist über sie bekannt. Natascha Wodin gibt diesen Namenlosen ein Gesicht. ............................................. Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Rowohlt, 366 Seiten, 19,95 Euro.

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