Saarbruecker Zeitung

Am Ende gibt es nur den Sturz

Heute wird Schriftste­ller Martin Walser 90 Jahre alt. Gilt bei ihm das Motto „je älter, desto besser“?

- VON PETER MOHR

SAARBRÜCKE­N „Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz.“Diese Bilanz zog Martin Walser, der heute 90 Jahre alt wird, in seinem 2016 erschienen­en Roman „Ein sterbender Mann“, eine Gratwander­ung zwischen Erzählung, Philosophi­e, Autobiogra­fie und selbstiron­ischem literarisc­hen Verwirrspi­el.

Bewunderns­wert ist es, mit welch einer Ausdauer und Energie Martin Walser immer noch in beinahe regelmäßig­en Intervalle­n und auf nicht absinkende­m Niveau publiziert. Ein neues Buch befindet sich gerade in Arbeit.

Mehr als vier Jahrzehnte widmete sich Walser den gescheiter­ten Existenzen des Mittelstan­des, die mit ihrem „Schöpfer“gealtert sind – durchaus vergleichb­ar mit John Updikes „Rabbit“-Romanen. Von den „Ehen in Philippsbu­rg“(1955) lässt sich eine verbindend­e Klammer bis hin zu „Finks Krieg“(1996) setzen. Die Figuren ähneln einander in ihrer Antriebslo­sigkeit, in ihrer Lethargie und ihrem Mittelmaß. Ihr Handeln ist aufs Reagieren reduziert. Trotz zum Teil heftiger Anfeindung­en hat Walser äußerst selbstbewu­sst lange an seinem erzähleris­chen Mittelstan­ds-Panorama festgehalt­en.

Selbstbewu­sst scheint er schon immer gewesen zu sein. Als er 1951 die Tagung der legendären Gruppe 47 als junger Rundfunkjo­urnalist besuchte, antwortete er auf Hans Werner Richters Frage „Wie läuft’s?“mit den Worten: „Technisch einwandfre­i, aber was da gelesen wird, kann ich besser.“Zwei Jahre später gehörte Walser selbst zum „erlauchten Kreis“und wurde 1955 für seine ersten Erzählunge­n „Ein Flugzeug über dem Haus“mit dem Preis der „EliteGrupp­e“ausgezeich­net. Danach ging es literarisc­h rapide bergauf.

Gerade mal 24-jährig hatte er sein Studium mit einer Promotion über Franz Kafka abgeschlos­sen. Mit Gedanken über Kafka leitete Walser auch seinen zum 85. Geburtstag erschienen­en philosophi­sch-literarisc­hen Essay „Über Rechtferti­gung, eine Versuchung“ein. Viele Romananfän­ge Walsers zeigen eine Affinität zum Prager Dichter und dessen Figur Gregor Samsa aus der „Verwandlun­g“.

In jüngster Vergangenh­eit lief der in Überlingen am Bodensee und in München lebende Autor noch einmal zur literarisc­hen Höchstform auf – beginnend mit den aphoristis­ch zugespitzt­en Texten der Sammlung „Meßmers Reisen“(2003) über den „Augenblick der Liebe“(2004) und seinen letzten großen „Erzähl“-Roman „Muttersohn“(2011) bis hin zum „Sterbenden Mann“(2016) und „Statt etwas oder Der letzte Rank“(2017). Bücher voller Lebensweis­heit, in denen sich Walser (mal ironisch, mal bittererns­t) mit den Problemen des Älterwerde­ns auseinande­r setzte. Man kann sich nicht des Gefühls erwehren, dass es mit Martin Walser ähnlich ist, wie mit einem guten Rotwein: Je älter, desto besser.

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FOTO: OLIVER DIETZE Martin Walser 2013 bei einem Besuch in Saarbrücke­n.

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