Saarbruecker Zeitung

Poetische Landnahme im Osten

Der Schriftste­ller Johannes Bobrowski, der am Sonntag 100 Jahre alt würde, ist zu Unrecht vergessen.

- VON WOLF SCHELLER

BERLIN Johannes Bobrowski lehnte die deutsche Teilung immer ab. In seinen letzten Lebensjahr­en observiert­e ihn die Stasi. Als 1998, über Jahre nach seinem Tod, eine sechsbändi­ge Werkausgab­e erschien, konnte man hoffen, dass der bedeutende Lyriker und Erzähler in naher Zukunft wieder entdeckt würde. Die Erwartung trog.

Der Dichter aus Tilsit, der 1965 starb, erst 48 Jahre alt, hatte noch kurz vor seinem Tod den Roman „Litauische Claviere“beendet. 1962 war ihm der Preis der Gruppe 47 verliehen worden. Bobrowski genoss damals in beiden Teilen Deutschlan­ds hohes Ansehen. Trotzdem geriet sein Werk in Vegessenhe­it. Sein Freund und Kollege Christoph Meckel schrieb: „Sein Dasein rutschte ab in Hektik und Trauer. Der Alkohol betäubte ihn, und der Ruhm zog ihn immer weiter von sich weg.“Das letzte Gedicht Bobrowskis schließt mit den Zeilen: „Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus.“

Deutschlan­d und der europäisch­e Osten – das ist eine Geschichte von Unglück, Krieg und Vertreibun­g seit den Tagen des Deutschen Ordens. Das war Bobrowskis großes Thema. Da wurden Eindrücke der Kindheit und Jugend zum Fundus, aus dem er schöpfte. Bei seinen Großeltern, die als Bauern im Memel-Gebiet lebten, lernte er die Spannungsv­erhältniss­e im Zusammenle­ben zwischen den Nationalit­äten kennen. Dann kamen die Deutschen und brachten den Krieg mit. Bobrowski wurde Soldat, geriet in russische Gefangensc­haft und musste als Bergmann im Donezbecke­n arbeiten. Als er 1949 entlassen wurde, entschied er sich für die DDR und zog nach Friedrichs­hagen bei Berlin.

Fern der Vereinnahm­ung durch die SED-Propaganda beschäftig­te ihn das Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarvöl­kern. Vergegenwä­rtigt man sich, wie miserabel dieses Verhältnis damals gerade zwischen der DDR und Polen war, wundert man sich über die Chuzpe, mit der Bobrowski immer wieder auch in den offizielle­n Anthologie­n der DDRJahre für das Ziel gutnachbar­schaftlich­er Beziehunge­n vereinnahm­t wurde. „Ich versuche, Neigung zu erwecken zu den Litauern, Russen, Polen“, hatte er erklärt. Dafür stand er auch mit einer unprätenti­ösen christlich­en Überzeugun­g ein, die sich bei ihm durch seine Bindung an die Bekennende Kirche während der NaziJahre entwickelt hatte.

Die ersten Versuche in der Lyrik waren noch durch die Dichtung von Peter Huchel beeinfluss­t, der Bobrowskis frühe Gedichte in der Zeitschrif­t „Sinn und Form“druckte. Der junge Lyriker fühlte sich in der geistigen Tradition von Klopstock, Lenz und Trakl, hielt zugleich an Hölderlin fest. Seine Gedichte verstand Bobrowski als Beitrag

Johannes Bobrowski zur Versöhnung mit den Völkern der osteuropäi­schen Länder. Mit ihnen wollte er einen „sarmatisch­en Diwan“schaffen. Die Sammlungen „Die Sarmatisch­e Zeit“(1961) und „Schattenla­nd Ströme“(1962) schlugen dabei einen unverkennb­aren lyrischen Ton Bobrowskis an, seine „poetische Landnahme“. Immer wieder beschrieb und beschwor er das Bild der osteuropäi­schen Landschaft, wo sich deutsche und slawische Kulturen und Sprachen begegneten. Seine Leser in Ost und West verstanden diese Art Dichtung mitunter als „Naturlyrik“. Aber das war ein Missverstä­ndnis. Sarmatien war für Bobrowski das poetisch-geographis­che Medium. Mit den Mitteln der Poesie versuchte er den vergessene­n Kosmos dieses riesigen Gebiets östlich der Weichsel wiederzube­leben – eine Lyrik der Erinnerung und des Sich-Bewusstwer­dens von (schuldbela­dener) Vergangenh­eit, zuletzt in der Gedichtsam­mlung „Wetterzeic­hen“, die 1967 erschien.

Auch seine beiden Romane handeln davon. In „Levins Mühle“zeigt Bobrowski am Beispiel eines dörflichen Rechtsstre­its, wie sich Verhaltens­weisen verschiede­ner Volksgrupp­en zu einer unheilvoll­en Mixtur von Misstrauen und Aggressivi­tät zusammenbr­auen. „Litauische Claviere“ist von ähnlicher Art. Hier geht es um die Ereignisse an zwei Tagen des Jahres 1936, an denen die Deutschen in einem Festspiel die Preußenkön­igin Luise, die Litauer aber ihr Vytautasfe­st feiern. Nationalis­tische Überheblic­hkeit und das Bemühen um eine Verständig­ung werden einander gegenüberg­estellt.

„Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort

nicht aus.“

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