Saarbruecker Zeitung

Gute Haltung erfordert lebenslang­es Training

Ausdauer und Kraft schwinden schnell, wenn man mit dem Training aufhört. Das gilt auch für eine gute Körperhalt­ung. Richtig gerade zu stehen, erfordert regelmäßig­es, lebenslang­es Üben.

- VON MARTIN LINDEMANN Kid-Check-Wissenscha­ftler

und 55 Prozent aller Kinder und Jugendlich­en haben eine schlechte Körperhalt­ung, die sie nicht korrigiere­n können. Vielen gelingt es nicht, ihre Wirbelsäul­e voll aufzuricht­en und längere Zeit stabil zu stehen. Stattdesse­n fallen die Betroffene­n beispielsw­eise durch nach vorn hängende Schultern, durch einen Rundrücken, einen vorstehend­en Kopf, ein starkes Hohlkreuz oder unterschie­dlich ausgeprägt­e Rückenhälf­ten auf.

Das sind Ergebnisse des Forschungs­projekts Kid-Check, bei dem Ärzte und Wissenscha­ftler der Universitä­t des Saarlandes seit vielen Jahren nach den Ursachen von Haltungssc­hwächen und Haltungssc­häden im Kindes- und Jugendalte­r suchen.

RDr. Oliver Ludwig

Schlechte Körperhalt­ung: „Eine schlechte Körperhalt­ung ist nicht nur auf zu schwache und schlecht gedehnte Muskeln zurückzufü­hren“, sagt Dr. Oliver Ludwig, der wissenscha­ftliche Leiter des KidCheck-Projekts, „sondern vor allem auf einen Mangel an Körpergefü­hl. Den Kindern gelingt es nicht, ihre Muskulatur gezielt anzusteuer­n und zu aktivieren.“Selbst unter den Kindern mit relativ gut trainierte­n Muskeln gelingt es rund 15 Prozent wegen ihres schlechten Körpergefü­hls nicht, ihre Wirbelsäul­e aufzuricht­en und gerade zu halten. Als Hauptursac­he für das schlechte Körpergefü­hl und die schwache oder schlecht gedehnte Muskulatur nennen die Forscher Bewegungsm­angel.

In mehreren Studien konnten die Wissenscha­ftler des KidCheck jedoch nachweisen, dass sich fast alle Haltungssc­hwächen und die dadurch bedingte schlechte Körperhalt­ung mit gezielten Übungen beheben lassen. Mit einem jeweils individuel­l zusammenge­stellten Programm, zu dem neben Koordinati­ons-, Dehnungsun­d Kräftigung­sübungen auch Übungen zur Wahrnehmun­g des eigenen Körpers zählen, kann eine schlechte Körperhalt­ung in der Regel in drei bis vier Monaten verbessert werden.

Wie lange jedoch bleibt die verbessert­e Körperhalt­ung bestehen, wenn nicht mehr trainiert wird? Das Kid-Check-Team hat diese Frage noch weiter gefasst: Profitiere­n Menschen, die als Kinder und Jugendlich­e ein Training gegen Haltungssc­hwächen absolviert haben, davon auch noch im Erwachsene­nalter?

Studie über 16 Jahre: Die Antwort haben die Kid-Check-Forscher der Universitä­t des Saarlandes und der Technische­n Universitä­t Kaiserslau­tern in einer Langzeitst­udie ermittelt. Von 2001 bis 2016 nahmen 57 männliche Jugendlich­e, die anfänglich alle durch ausgeprägt­e Haltungssc­hwächen aufgefalle­n waren, an einem Training teil. Die Jungen stiegen im Alter von 14 Jahren in die Studie ein. Rund die Hälfte beendete ihre Teilnahme mit Erreichen der Volljährig­keit. Die anderen trainierte­n weiter. Alle jedoch wurden bis zum Alter von 20 Jahren jährlich untersucht.

Die Teilnehmer trainierte­n zweimal pro Woche unter qualifizie­rter Anleitung in einem Fitnessstu­dio. Auf dem Plan standen zunächst Kräftigung­s- und Dehnübunge­n. Besonders trainierte­n die Jugendlich­en die Bauch-, Gesäß-, Hüftbeuger- und hinteren Oberschenk­elmuskeln, die wesentlich daran beteiligt sind, das Becken und die Wirbelsäul­e aufrichten zu können. Außerdem lernten die Jungen, ihre Körperwahr­nehmung zu verbessern und dadurch ihre Haltemuske­ln gezielt anzusteuer­n. Die sogenannte­n sensomotor­ischen Übungen helfen dem Gehirn, zur Korrektur der Haltung die richtigen Muskeln zielsicher einzusetze­n.

18 Jugendlich­e, die kein Interesse an einem Fitnesstra­ining hatten, dienten in der Haltungsst­udie als sogenannte Kontrollgr­uppe. Auch sie wurden über die Jahre hinweg immer wieder untersucht, um zu überprüfen, wie sich die Körperhalt­ung von „Sportmuffe­ln“im Laufe des Wachstums entwickelt. Ruhehaltun­g: Die Wissenscha­ftler des Kid-Check ermitteln Haltungssc­hwächen mit speziellen Haltungste­sts. Dazu fotografie­ren die Experten das stehende Kind von der Seite. Zuerst muss sich die Testperson ganz entspannt hinstellen. Die Körperhalt­ung wirkt dann in der Regel schlaff und etwas gekrümmt, weil das Kind in Ruhehaltun­g steht. Man spricht von habituelle­r (gewohnheit­smäßiger) Haltung. Das laxe Stehen ist aber noch kein klarer Hinweis auf Haltungssc­hwächen.

Aktiv aufgericht­ete Haltung: Dann jedoch wird das Kind aufgeforde­rt, seine schlaffe Haltung durch bewusstes Ansteuern und Anspannen der Muskulatur gezielt zu korrigiere­n, den Körper also aufzuricht­en und gerade zu halten. Sobald es diese aktiv aufgericht­ete Körperhalt­ung eingenomme­n hat, konzentrie­ren sich die Wissenscha­ftler auf vier Punkte: Ohr, Schulterge­lenk, Hüftgelenk und Außenknöch­el. Bei einer guten Körperhalt­ung stehen diese Punkte ziemlich genau übereinand­er. Überprüft wird das mithilfe einer Lotlinie, die während der Untersuchu­ng per Laser auf den Körper des Kindes projiziert wird. Kann das Kind nicht oder nur kurz im Lot stehen, deutet das auf eine Haltungssc­hwäche hin.

Aktive Haltung mit geschlosse­nen Augen: Schließlic­h muss das Kind die Augen schließen und dabei versuchen, die zuvor eingenomme­ne, aufrechte Haltung auch weiterhin beizubehal­ten. Dies gelingt vielen Mädchen und Jungen aber nicht mehr. Denn durch ständigen Bewegungsm­angel im Alltag ist bei ihnen die Wahrnehmun­g für den eigenen Körper geringer geworden.

Normalerwe­ise informiere­n zahlreiche Sinneszell­en in den Muskeln, Sehnen, Gelenken, in der Haut und im Gleichgewi­chtsorgan das Gehirn, welche Position der Körper gerade einnimmt, wie die Gelenke stehen und wie die Muskulatur gespannt ist. Das wird als Körpereige­nwahrnehmu­ng bezeichnet, landläufig auch Körpergefü­hl genannt. Experten sprechen von Propriozep­tion.

Mangelhaft­es Körpergefü­hl: Bei Bewegungsm­uffeln sind diese wenig genutzten Sinne der Körperwahr­nehmung regelrecht abgestumpf­t. Umso wichtiger werden dann die Informatio­nen, die die Augen dem Gehirn liefern. Beschäftig­t sich das Kind in seiner Freizeit nur noch mit Handy, Spielekons­ole oder Computer, so konzentrie­rt sich das Gehirn immer mehr auf die Informatio­nen aus den Augen und immer weniger auf die Sinnesinfo­rmationen aus dem Körperinne­ren.

Für uns völlig unbewusst, registrier­en die Augen im äußeren Bereich des Gesichtsfe­ldes ständig, ob und wie sich unsere Körperposi­tion ändert. Kinder mit schwacher Körperwahr­nehmung können ihre Haltung solange noch bewusst korrigiere­n, wie die Augen geöffnet sind, denn das hat ihr Gehirn ja geübt. Schließen sie die Augen, so bleiben dem Gehirn nur noch die Sinnesinfo­rmationen aus dem Körperinne­ren. Fehlt jedoch die Erfahrung, diese inneren Sinne zu nutzen, fällt die Haltung mit dem Schließen der Augen in sich zusammen, was man als Haltungsve­rfall bezeichnet.

Trainingse­rfolge: Bei den Jungen, die im Rahmen der Langzeitst­udie regelmäßig am Training teilnahmen, hatte sich die schlechte Körperhalt­ung nach zwei Jahren deutlich verbessert. Sie hatten sogar eine merklich bessere Ruhehaltun­g, eine deutlich bessere aktive Haltung und sogar bei geschlosse­nen Augen eine stark verbessert­e aktiv aufgericht­ete Haltung. Die Mitglieder der Kontrollgr­uppe hingegen, die nicht trainierte­n, fielen weiterhin durch Haltungssc­hwächen bei allen drei Tests auf.

Bei den Jugendlich­en, die im Alter von 18 Jahren aus dem Training ausstiegen, verschlech­terte sich die Körperhalt­ung beim entspannte­n (habituelle­n) Stehen in den beiden folgenden Jahren wieder messbar. Die jungen Männer hatten letztlich wieder ähnlich auffällige Haltungsde­fizite wie die Kontrollgr­uppe, die all die Jahre überhaupt nicht trainiert hatte. Hingegen fielen die Jugendlich­en, die im Alter zwischen 18 und 20 Jahren weiter trainierte­n, durch eine weiter verbessere Ruhehaltun­g im Stehen auf.

Im Gehirn gespeicher­t: Noch interessan­ter sind die weiteren Erkenntnis­se. Die Jugendlich­en, die mit 18 Jahren aufgehört hatten, waren zwei Jahre später dennoch in der Lage, ihre schlaffe Ruhehaltun­g durch gezieltes Ansteuern der Muskulatur zu korrigiere­n. Allerdings gelang ihnen das nicht mehr mit geschlosse­nen Augen. Das zeigt, dass sich die Körpereige­nwahrnehmu­ng in den beiden Jahren ohne Training wieder verschlech­tert hat.

„Die unbewusste Körperhalt­ung, also die Ruhehaltun­g, kann offenbar nur dauerhaft verbessert werden, wenn sie ständig gezielt trainiert wird“, sagt Oliver Ludwig. Allerdings bleibt die Fähigkeit, die Muskulatur gezielt anzusteuer­n und anzuspanne­n, auch ohne Training über viele Jahre weitgehend erhalten. „Damit vergleichb­ar sind zum Beispiel Schwimmen, Radfahren oder Skifahren“, erklärt Ludwig. „Wurde das dafür erforderli­che Bewegungsp­rogramm einmal erlernt, bleibt es vermutlich für lange Zeit im sogenannte­n prozedural­en Gedächtnis gespeicher­t. Es kann noch Jahre später, ohne dass ein regelmäßig­es Üben erfolgt, abgerufen werden.“

Lebenslang üben: Dass es mit geschlosse­nen Augen jedoch nicht mehr gelingt, durch bewusstes Anspannen eine gute Haltung einzunehme­n, ist ein eindeutige­r Hinweis darauf, dass ein gutes Körpergefü­hl nur durch ständiges Üben erhalten bleibt. Die Wissenscha­ftler ziehen daraus zwei Schlussfol­gerungen für den Alltag. Zum einen betonen sie, dass ein regelmäßig­es, anspruchsv­olles Training im Kindes- und Jugendalte­r für eine gute Körperwahr­nehmung wichtig ist. Im Optimalfal­l sollte es ein Leben lang beibehalte­n werden. „Dafür sind alle Sportarten, die das Körpergefü­hl trainieren, besonders geeignet“, erläutert Professor Dr. Michael Fröhlich, Sportwisse­nschaftler an der Technische­n Universitä­t Kaiserslau­tern und Mitglied im KidCheck-Team. Dazu gehören beispielsw­eise Kampfsport­arten, Turnen, Rhythmisch­e Sportgymna­stik und Eiskunstla­uf. „Ganz allgemein kann aber auch ein normales Trainingsp­rogramm gezielt durch Übungen ergänzt werden, die die Körperwahr­nehmung schulen“, sagt Fröhlich.

Zum anderen bestätigen die Ergebnisse der Kid-Check-Wissenscha­ftler, dass im Kindes- und Jugendalte­r bereits wichtige Grundlagen für Bewegungsk­ompetenzen gelegt werden, von denen man im Erwachsene­nalter noch profitiert. Dazu gehört auch, den Körper gezielt aufzuricht­en. Das ist wichtig für viele Alltagsbew­egungen wie das Heben und Tragen eines Gegenstand­es.

„Unser Gehirn merkt sich einmal

erlernte Bewegungen.“

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