Saarbruecker Zeitung

Der Hype um „Hygge“

Das dänische Wohlgefühl ist zum Trend geworden. Viele wollen das Glücksreze­pt der nordischen Nachbarn kopieren.

- VON JULIA WÄSCHENBAC­H

KOPENHAGEN (dpa) Es ist in einem kleinen Land nördlich von Deutschlan­d entstanden und hat sich von dort aus auf Eroberungs­tour durch die halbe Welt gemacht. Alle wollen plötzlich das dänische Lebensgefü­hl „Hygge“spüren. In Großbritan­nien und den USA hat das Phänomen aus heiterem Himmel einen Hype ausgelöst. Zusammense­in, Gemütlichk­eit, die einfachen Freuden des Lebens – wenn das Wetter draußen schlecht ist und auf der Welt Konflikte schwelen, lockt das dänische Glücksreze­pt umso verführeri­scher. Aber Vorsicht: Die „Hygge“hat auch Schattense­iten, warnt ein Experte.

„Skandinavi­en hat einen Ruf als glückliche­r Teil der Welt“, sagt der Hygge-Forscher Jeppe Trolle Linnet. „Und so hat man es geschafft, Hygge als eine Zutat zum skandinavi­schen Glück zu vermarkten.“Auch in deutschen Bücherläde­n wimmelt es vor Literatur zu dem Wohlfühltr­end. Die Bücher tragen Titel wie „Hygge – ein Lebensgefü­hl, das einfach glücklich macht“oder „Hygg Hygg Hurra!: Glücklich wie die Dänen“. Wer es sich zu Hause so gemütlich und zugleich stylisch machen will wie die Trendsette­r aus dem Norden, liest „Hyggelig Wohnen: Inspiratio­nen aus Skandinavi­en“.

Was genau steckt hinter dem dänischen Exportschl­ager? „Hygge“, das ist für jeden etwas anderes. Ein Fahrradaus­flug an einem Frühlingst­ag. Frischer Kaffee mit Zimtschnec­ken. Ein ausgelasse­nes Fest. Ein Grillabend mit Freunden. An einem Sommertag aufs Wasser gucken. Im Winter ist „Hygge“ein Sonntag auf dem Sofa, mit einer Wolldecke über den Beinen, einem Buch in der Hand und Kerzen auf der Fensterban­k. „Alle Momente, in denen ich mich maximal entspanne“, sagt ein Däne. „Hygge“kann auch ein Horrorfilm sein oder ein Rockkonzer­t. Der dänische Wohlfahrts­staat gibt seinen Bürgern seit Jahrzehnte­n ausreichen­d Gelegenhei­t zur „Hygge“. Gearbeitet wird vorrangig, um für sich und andere sorgen zu können, wichtiger sind Partner und Nachwuchs daheim und das soziale Beisammens­ein. Darauf nehmen Arbeitgebe­r Rücksicht. „Sich auf die Dinge im Dasein zu konzentrie­ren, die unverzicht­bar sind, anstatt nur nach Karriere und Prestige zu jagen, gehören zum Geheimnis“, sagt Jeppe Trolle Linnet. Dass die Dänen in Glücksstat­istiken stets weit oben landen, hat nach Jeppe Trolle Linnet deshalb mehr damit zu tun, dass viele Menschen hier zufrieden mit dem sind, was sie haben. Die Grundbedür­fnisse sind gedeckt, das Gefühl von Vertrauen und sozialer Gerechtigk­eit ist groß. In ihrem Buch „111 Gründe, Dänemark zu lieben“führt die deutsche Auswanderi­n Maritta Demuth das Phänomen als 33. Grund an. „Dänemark in einem Wort“, schreibt sie, und stellt dann fest: Auf Deutsch lässt sich „Hygge“nicht in einem Wort übersetzen – auch wenn viele es mit „Gemütlichk­eit“probieren. In der Alltagsspr­ache ist das Phänomen in unterschie­dlichen Formen allgegenwä­rtig: Die Dänen kennen nicht nur die „Hygge“, sie können sich auch „hyggen“und etwas kann „hyggelig“sein (so ziemlich alles Positive).

In einer Zeit, in der wirtschaft­liche Unsicherhe­it und politische Konflikte schwelen, finden wir „Hygge“besonders attraktiv, sagt der Kopenhagen­er Forscher Jeppe Trolle Linnet. „Hygge kann dazu führen, dass man sich nach innen kehrt und von der Welt abwendet, weil diese komplex und bedrohlich ist“, sagt er. „In der Hygge kann eine Wirklichke­itsflucht mitschwing­en.“À la: Die Welt ist kalt und böse, aber wir sitzen drinnen und trinken warmen Kakao.

In der Intimität der „Hygge“wird das Fremde schnell zur Bedrohung. Darunter können Vielfalt und Toleranz in Dänemark leiden, erläutert der „Hygge“-Experte. „Das Problem mit Hygge ist, dass sie ausgrenzen­d sein kann, und sie kann auch konfliktsc­heu und kleinbürge­rlich sein.“Seit vielen Jahren gewinnen Parteien mit dem Ruf nach einer strengeren Ausländerp­olitik in Dänemark Wahlen. Wenn unser Wohlfahrts­system überleben soll, sagen die Rechtspopu­listen, müssen wir unsere Grenzen dichtmache­n.

„Skandinavi­en hat einen Ruf als glückliche­r Teil der Welt.“

Jeppe Trolle Linnet

Hygge-Forscher

 ?? FOTOS: DPA ?? Auch das gehört zu „Hygge“, dem dänischen Lebensgefü­hl: einfach mal den Fischen zuschauen.
FOTOS: DPA Auch das gehört zu „Hygge“, dem dänischen Lebensgefü­hl: einfach mal den Fischen zuschauen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany