Die „Ja“-Sager: Eine Fage der Integration?
BERLIN (dpa) War es Protest? Oder Patriotismus? Das Wahlverhalten vieler Deutschtürken sorgt für Aufregung – und Besorgnis. Wegen der starken Unterstützung vieler in Deutschland lebender Türken für das Verfassungsreferendum in der Türkei warnen Politiker vor Integrationsproblemen. „Die jetzige Situation ist auch eine Belastung des Integrationsprozesses hier in Deutschland“, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD). Sie warnte vor einer Spaltung der türkischen Gemeinde in Deutschland. „Es ist jetzt mehr denn je Besonnenheit gefragt.“
Grünen-Chef Cem Özdemir sieht die in Deutschland lebenden Türken aus dem „Evet“(„Ja“)-Lager in Erklärungsnot. „Ein Teil der Deutschtürken muss sich kritische Fragen gefallen lassen“, sagte er im ARD-„Morgenmagazin“. Sie genössen in Deutschland die Vorteile der Demokratie, richteten in der Türkei aber eine Diktatur ein. „Wir müssen über Versäumnisse der Integrationspolitik reden.“
Die Deutschtürken haben aus Sicht des Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, auch aus Protest das Präsidialsystem Erdogans unterstützt. „Sie wollten dadurch Protest zum Ausdruck bringen gegen das, was sie seit Jahrzehnten aus ihrer Sicht hier empfinden“, sagte Sofuoglu dem Südwestrundfunk. „Dass sie sich diskriminiert fühlen, dass sie sich ausgegrenzt fühlen, hat, denke ich, zu der ganzen Diskussion vor dem Referendum und den Spannungen zwischen Europa und der Türkei geführt.“Erdogan habe das sehr polemisch aufgegriffen und Europa und Deutschland als Feindbild genommen. Bei der Integration von Türken in Deutschland müsse „auf jeden Fall einiges nachgebessert werden“, sagte Sofuoglu.
Eine knappe Mehrheit – 51,4 Prozent – der türkischen Wähler hatte bei dem Referendum am Sonntag für eine Verfassungsreform gestimmt. In Deutschland konnte Erdogan für sein Präsidialsystem sogar fast eine Zweidrittelmehrheit hinter sich vereinen – 63,1 Prozent oder 412 149 Wähler. Dennoch ist das Votum kein Beleg für eine gescheiterte Integration, sagt Wahlforscher Joachim Schulte, Geschäftsführer des deutschtürkischen Meinungsforschungsinstituts Data 4U. Nur die Hälfte der Wahlberechtigten habe in Deutschland abgestimmt. Ob jemand beim Referendum mit „Ja“oder „Nein“votiere, habe „nichts mit dem Stand der Integration zu tun“, sagt auch Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen. Statt das „Ja“-Lager zu verurteilen, sollte die deutsche Politik und Gesellschaft sich nun stärker mit dieser Gruppe befassen. „Die Botschaft muss sein: Ihr gehört zu uns, auch wenn ihr nicht Mesut Özil seid.“