Kluger Schachzug inmitten der Brexit-Wirren
LEITARTIKEL
Theresa Mays Vorgehen ist smart. Ein knappes Jahr nach dem Brexit-Referendum kündigt die Premierministerin Neuwahlen für den 8. Juni an. Es gibt dafür keinen besseren Zeitpunkt. Auch wenn die Geschichte Vorsicht vor Prognosen gelehrt hat – alles andere als ein haushoher Sieg für die Konservativen wäre eine Überraschung. Aktuellen Umfragen zufolge würden 44 Prozent der Briten für die Tories unter May stimmen, was im britischen Wahlsystem für eine überwältigende Mehrheit der Sitze reichen kann. So könnte May ihre Partei ruhigstellen, die in der EU-Frage gespalten ist.
Die Konkurrenz liegt dagegen am Boden und ist mit sich selbst beschäftigt. Derzeit planen zum Beispiel nur 23 Prozent der Briten, für die in einem beklagenswerten Zustand befindliche Labour-Partei von Jeremy Corbyn zu votieren. Dass wenige Wochen ausreichen, um die Opposition wieder auferstehen zu lassen, ist so gut wie ausgeschlossen.
Vermutlich viel bedeutender für May ist aber, dass sie sich nun endlich ein eindeutiges Mandat verschaffen kann und damit die nötige Legitimität für ihre Entscheidungen – ob für die Verhandlungen mit Brüssel oder bei nationalen Belangen wie in der Wirtschafts- und Bildungspolitik. Seit Monaten werfen ihr Kritiker vor, sie besitze keine Befugnis, da sie nach dem Brexit-Votum und dem Rücktritt David Camerons nur von ihrer Partei zur Premierministerin „gekrönt“worden war.
Außerdem verschafft der wahrscheinliche Sieg Theresa May schlichtweg Zeit. Die Mehrzahl der Ökonomen und Experten prophezeit, dass Großbritannien die wirtschaftlichen Auswirkungen des EU-Austritts noch auf schmerzliche Weise zu spüren bekommen wird. Brüssel dürfte hohe Rechnungen ausstellen. Etliche Unternehmen, Banken, Institutionen und Dienstleister denken über einen Wegzug aus dem Königreich nach. Schon jetzt ist das Pfund stark gefallen und verteuert für die Briten Lebensmittel und Urlaube. Zwar herrscht auf der Insel vor allem unter Brexit-Anhängern noch immer eine fast realitätsferne Euphorie, angeheizt durch die europaskeptische Presse. Doch May weiß, welches Chaos auf London zukommt.
Spätestens in knapp zwei Jahren, wenn die Frist für die Verhandlungen über die Scheidung von Europa ausläuft, dürfte die Realität den Alltag einholen.
Dann könnten die Briten erkennen, dass es fast unmöglich ist, in der kurzen Zeit ein Handelsabkommen mit der EU zu vereinbaren und dass die Tage der Sonderbehandlung für Großbritannien gezählt sind. Dass die Premierministerin unter Umständen die Quittung bei einer Wahl 2020 erhalten würde, will sie vermeiden. Ihr kluger Schachzug einer vorgezogenen Abstimmung aber gibt ihr nach dem endgültigen EUAustritt 2019 drei Jahre Zeit, um die neuen Leiden des BrexitGroßbritanniens zu mildern. Oder es kommt alles anders und der EU-Austritt wird ein großer Erfolg, den sie dann für sich verbuchen kann. Wie auch immer es ausgehen mag, May gewinnt.