Saarbruecker Zeitung

Frei, gleich, geheim – aber nicht für alle

Das deutsche Wahlrecht schließt fast 85 000 Betreuungs­patienten aus. Nun fordert die Behinderte­nbeauftrag­te Verena Bentele eine Änderung dieser Regelung.

- VON WERNER KOLHOFF

BERLIN 84 500 Schwerstbe­hinderte und Psychiatri­epatienten sind in Deutschlan­d von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlo­ssen. Die Behinderte­nbeauftrag­te der Bundesregi­erung, Verena Bentele, greift diese Regelung des Bundeswahl­gesetzes nun an und fordert ihre Abschaffun­g.

Bisher verliert derjenige das aktive und passive Wahlrecht, für den ein Familienge­richt dauerhaft eine Betreuung „in allen Angelegenh­eiten“angeordnet hat. Das betrifft rund 81 000 Fälle. Darüber hinaus gibt es rund 3000 in Psychiatri­en eingewiese­ne „schuldunfä­hige Straftäter“, die ebenfalls kein Wahlrecht haben. Außerdem können Gerichte Bürgern bei bestimmten staatsgefä­hrdenden Straftaten wie etwa Hochverrat das Wahlrecht entziehen. Aktuelle Fälle gibt es hier allerdings nicht.

Die pauschale Aberkennun­g des Wahlrechts für bestimmte Gruppen ist internatio­nal umstritten. Der zuständige UN-Ausschuss für Rechte von Menschen mit Behinderun­g hat unter anderem Deutschlan­d bereits 2015 zur Abschaffun­g der Regelung aufgeforde­rt. Einige Länder wie Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Berlin haben ihre Landeswahl­gesetze daraufhin schon geändert oder sind dabei. Im Bundeswahl­gesetz steht sie aber noch. Die Hälfte der EU-Mitgliedss­taaten kennt eine solche pauschale Aberkennun­g nicht.

Bentele wird unter anderem von Ex-Gesundheit­sministeri­n Ursula Schmidt (SPD) und weiteren Abgeordnet­en unterstütz­t; am 25. April soll mit einer öffentlich­en Veranstalt­ung in Berlin unter dem Titel „Wahlrecht für alle“gegen den Paragrafen mobil gemacht werden. Das Hauptargum­ent der Kritiker: Das Kriterium einer vom Betreuungs­gericht angeordnet­en dauerhafte­n Betreuung sage allein nichts darüber aus, welche Fähigkeite­n die Betreffend­en hätten, um eine Wahlentsch­eidung treffen zu können. Nicht ohne Grund werde solchen Menschen ja auch nicht automatisc­h die Geschäftsf­ähigkeit aberkannt.

Auffallend ist die regional sehr unterschie­dliche Streuung der Fälle: In Bayern sind es 203,8 je 100 000 Einwohner, in Bremen nur 7,8. Zum Teil liegt es, schätzen Experten, an der Bequemlich­keit der Gerichte, für die eine Vollbetreu­ung einfacher zu entscheide­n ist. Auch gibt es weniger Vollbetreu­ung in Gegenden mit guten sonstigen Hilfsangeb­oten. Drei Millionen Deutschen, die notariell eine Versorgung­sverfügung hinterlegt haben, sind von dem Wahlrechts­entzug auch im späteren totalen Pflegefall prinzipiel­l sowieso ausgenomme­n, weil ihre Betreuung nicht von Gerichten angeordnet wird, sondern selbst geregelt ist. Das widerspric­ht dem Grundsatz der Gleichbeha­ndlung. Die Gefahr, dass Dritte das Stimmrecht der Betreuten missbrauch­en oder diese manipulier­en könnten, sehen die Unterstütz­er der Initiative nicht. Mit dem Wahlrechts­entzug würden zudem die Falschen bestraft.

Vor der Bundestagw­ahl ist eine Änderung des Wahlgesetz­es allerdings kaum noch wahrschein­lich, weil die Parteien eine Reform mit anderen anstehende­n Fragen verbinden wollen, etwa der Größe des Parlaments. Und dafür reicht die Zeit nicht mehr. Außerdem wird in Berlin auf ein Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts in Karlsruhe gewartet, bei dem bereits Beschwerde­n von fünf betroffene­n Bürgern anhängig sind, die 2013 nicht an der Bundestags­wahl 2013 teilnehmen durften.

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FOTO: FASSBENDER/DPA Wer eine von einem Familienge­richt angeordnet­e dauerhafte Betreuung hat, verliert das Wahlrecht. Kritiker meinen, eine solche Anordnung sage nichts über die Fähigkeit aus, eine Wahlentsch­eidung treffen zu können.

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